Katzentreppen-Meditation

Manchmal, meist zweimal in der Woche, fahre ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause mit dem Bus an einem Haus vorbei, das in meinen Augen eigentlich nicht weiter auffällig wäre, hätte es nicht an der einen Seite eine Katzentreppe, die vom Garten zu einem der Fenster in der ersten Etage führt. Eine hölzerne und offensichtlich nicht ganz neue Katzentreppe, bestehend aus einer langen und ziemlich massiven Planke mit draufgesetzten Sprossen, die einigermaßen steil nach oben führt und dort mit einer Art Podest von vielleicht 50 x 50 cm vor einem Fenster endet. Die Treppe sieht gut aus und stabil und nicht so, als würde sie sehr schwanken, wenn eine Katze schnell rauf oder runter läuft.

Das Fenster, durch das eine Katze das Haus betreten oder verlassen würde, ist immer, wenn ich vorbeikomme, geschlossen. Bisher habe ich auch noch keine Katze gesehen, weder auf der Treppe, noch auf dem Podest oder drinnen auf der Fensterbank, und auch nicht an einem anderen Fenster des Hauses oder im Garten.

Und dabei halte ich immer Ausschau, wenn mein Bus vorbeifährt, zweimal wöchentlich, dienstags und donnerstags.

Was das wohl für eine Katze sein mag, die hier wohnt und diese Treppe benutzt, frage ich mich oft. Sie muss wohl einigermaßen sportlich sein für die Nutzung ihres privaten Ein- und Ausganges, sonst wären Ein- und Ausstieg ihr vielleicht zu steil und zu gefährlich. Wahrscheinlich auch noch nicht im Seniorenalter.

Menschen habe ich rund um das Haus und die Katzentreppe auch noch nicht gesehen, aber der Garten sieht sehr gepflegt aus mit saisonalen Blumen und Sträuchern und wenig Unkraut. Auch auf den anderen Fensterbänken an den Fenstern ohne Katzentreppe sieht man grüne und gesund wirkende Pflanzen. Ich gehe also davon aus, dass das Haus bewohnt ist. Von Menschen, die älter sind als ich, vermute ich, irgendwie sehen das Haus und der Garten so aus. Nicht von einer jungen Familie, aber auch nicht von Menschen, die aus Altersgründen nicht mehr in der Lage sind, sich selbst um ihren Garten zu kümmern. Wie alt mag wohl die Katze sein?

Oder gibt es die Katze vielleicht gar nicht mehr? Die Katzentreppe, ich erwähnte ist, ist sicher nicht mehr ganz neu. Vielleicht ist sie auch – bis auf Weiteres – stehengeblieben, als die Katze des Hauses gestorben ist. Vielleicht waren sich die Menschen nicht sicher, ob sie noch einmal eine neue Katze bei sich einziehen lassen wollen. Vielleicht weil sie gerechnet haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, dass eine junge Katze sie – sofern sie sich an die statistisch wahrscheinliche Lebenserwartung hält – vielleicht überleben könnte. Das möchten sie natürlich nicht, eine traurige Katze, die eines Tages zurückbleibt, weil ihre Menschen gestorben sind oder in eine Pflegeeinrichtung umziehen mussten, und die dann ebenfalls umziehen muss, in eine Wohnung ohne Balkon oder gar in ein Tierheim ohne Freigang und Katzentreppe und am Freitag immer ein bisschen gedünsteten Seelachs und am Sonntag die Reste vom Braten. Die durch Fenster und Treppe ihre Unabhängigkeit bewahrt oder wenigstens so tut und rein- und rauskann, wie sie möchte, auch wenn sie das aufgrund ihres Alters oder des durch Seelachs und Braten etwas rund gewordenen Bäuchleins gar nicht mehr so gerne tut. Sie nutzt mittlerweile für ihre eher seltenen und kurzen Besuche in diesem Draußen gerne die Haustür oder die Terrassentür und wenn gerade niemand da ist, um sie rauszulassen, dann ist das nicht so schlimm, denn auf dem Sessel, wo mittags immer so schön die Sonne draufscheint, da liegt es sich auch sehr gemütlich.

Aber diese gemütliche Katze auf dem Sessel, die die luxuriöse Katzentreppe immer noch gerne in den Gesprächen mit der etwas arroganten Siamkatze von gegenüber erwähnt, sie aber kaum noch jemals benutzt, die gibt es möglicherweise gar nicht, weil sich die Menschen, die in dem Haus mit der Katzentreppe leben, entschieden haben, keine neue Katze mehr ins Haus zu holen. Die Frau vermisst die verstorbene Katze noch immer und hätte gerne wieder eine neue Katze im Haus, aber wenn sie diesen Wunsch laut ausspricht, erwidert ihr Mann, dass es aber auch sehr schön sei, zweimal im Jahr in Urlaub fahren zu können, ohne irgendwelche Arrangements für die Katze treffen zu müssen, und die Nachbarin mit der Siamkatze wolle ja wohl wirklich niemand zum Füttern im Haus haben! Und dann nickt die Frau und stimmt halbherzig zu und denkt: Scheiß auf Urlaub, ich hätte viel lieber wieder eine Katze. Und wenn wir zu alt für eine junge Katze sind, dann gibt es im Tierheim doch auch ältere Katzen, die dringend ein schönes Zuhause mit Seelachs und Braten und Sessel und Katzentreppe suchen. Aber der Mann murmelt dann so was: Bei älteren Katzen weiß man ja nicht, was man bekommt. Nachher mag sie keinen Fisch und bringt über die Katzentreppe fremde Kater mit nach Hause, die mitten in der Nacht laut rumgrölen und auf den Sessel kotzen. Er würde gerne die Katzentreppe abmontieren, dann wäre endlich Schluss mit dem Hin und Her. Aber das erlaubt die Frau nicht. Vielleicht findet uns ja irgendwann nochmal eine Katze, die ein Zuhause braucht, denkt sie. Und wenn sie schon älter und nicht mehr so mobil ist, dann montieren wir eben einen Treppenlift. Einen Katzentreppenlift. Und für uns einen drinnen, um abends ins Schlafzimmer zu kommen. Dann müssen wir nicht so bald ins Pflegeheim. Und dann liegen wir mittags zusammen im Wohnzimmer im Sessel, die Katze und ich und wenn er will auch der Mann, und lassen uns von der Sonne bescheinen. Ach, das wäre schön.

Und ich sitze im Bus und fantasiere so vor mich hin. Und vielleicht verliere ich eines Tages mal ganz versehentlich eine Katze in dem Garten vor der Katzentreppe oder der Terrassentür und hoffe das Beste.

7 Kommentare

  1. Das ist so schön geschrieben. In solche Tagträume kann ich mich auch sehr gern verlieren und meist mache ich dann Geschichten daraus..
    Ich habe diese Katzentreppe und diesen Garten lebhaft vor Augen, ja sogar die arrogante Siamkatze von nebenan und vielleicht schreibe ich demnächst mal eine Geschichte, wie jemand eine Katze vor einem gepflegten Garten mit Katzentreppe verliert..

    Lieben Gruß, Andrea

  2. Ja, so kann’s gehen …
    Erinnert mich an die Katzentreppe bei einer lieben Internet-Freundin, deren Kater sie fleißig nutzte, bis er zu krank wurde und dann starb. Ich sah sie noch bei meinen Besuchen, als er bereits nicht mehr lebte. Nicht viel später starb auch meine Freundin – wer weiß, ob die Katzentreppe noch am Haus ist, ob der Eigentümer oder neue Mieter sie abmontiert haben oder ob derzeit eine neue Katze sie glücklich nutzt.
    Das erinnert mich nun an diese Besuche, Jahre ist das her, noch „vor Corona“. Ich schaue mir die Bilder deiner Katzen an, über die ich seit Jahren lese, und denke an den verstorbenen … Pilger und seine Futterfrau.
    Danke.

    1. Danke dir.
      Pilger ist ja auch ein interessanter Katzenname. Aber wie schön, dass meine kleine Geschichte deine Erinnerungen so anregt.
      Schönen Sonntag und beste Grüße
      Bettina

  3. Was für eine liebevolle und empathische Gedankenreise! Und überhaupt: Es gibt gute Katzensitter*innen und das Tierheim ist keine Einbahnstraße, egal ob alte oder junge, fitte oder beeinträchtigte Katzen. Wäre ich die Ehefrau in dieser kleinen Fantasie, würde ich meinen Mann zu den Öffnungszeiten mit ins Tierheim nehmen …

    1. Danke dir.
      Völlig richtig, eigentlich müsste man klingeln und den Leuten das alles erklären, also vor allem dem Mann. Aber vielleicht ist er es auch, der gerne eine neue Katze hätte und seine Frau ist dagegen, weil die immer die äußerst seltenen Setzlinge der Topfpflanze, die sie von der Siamkatzen-Halterin bekommen hat, kaputt gemacht hat. Man weiß es ja alles nicht.
      Schöne Grüße und schönen Sonntag
      Bettina

  4. Ja, Bettina,
    so waren auch meine Gedänkengänge, nachdem sich die TerrorCatGang einfach davon gemacht hat, Urlaub oder wieder ein Kater? Wie es ausgegangen ist war ja klar ?
    Ich muss noch was erwähnen, weil ich mich gerade freue: Als ich 2007 bei Xwitter aufschlug, suchte ich einen Namen für mich. Ich wollte nämlich keine ‚Dosi‘ sein. Spontan erfand ich die ‚Futterfrau‘ oder ‚FF‘. Die gab es bisher nämlich noch nicht. Jetzt lese ich den Namen bei Susanne und muss breit grinsen! Vielleicht habe ich in meinem Leben für die nächsten Generationen doch was hinterlassen? Besser als nix, oder?

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