Mein Gast stirbt. Mein Gast, der Hospizgast, den ich seit seinem Einzug im August wöchentlich zweimal besuche, stirbt. Nach über fünf Monaten, in denen es ihm mal so, mal so, aber im Großen und Ganzen stabil und okay ging, stirbt er. Ja, es gab eine leichte aber kontinuierliche Verschlechterung seines Zustandes in den letzten Wochen, aber zwischendurch ist er auch noch einige Male zu großer Form aufgelaufen und wirkte ziemlich kernig. Und nun ist er doch am Ende seines Weges angekommen.
Fünf Monate im Hospiz, das ist lange. Nicht extrem lange, aber deutlich über dem Durchschnitt, der bei etwa einem Monat liegt. Lange genug, um alle Arten des Trauerns und des Abschiednehmens zu durchlaufen. Mehrfach, wenn es sein soll. Lange genug, um Beziehungen zu den neuen Menschen, mit denen man zu tun hat, aufzubauen. Lange genug, um einer noch relativ neuen Ehrenamtlichen ans Herz zu wachsen.
Erfahrene Hospizler, also vor allem die Hauptberuflichen, haben natürlich einen Blick für ihre Gäste und deren Entwicklung hin zum Sterben, zum Tod. Sie erkennen schleichende Veränderungen und Verschlechterungen und wissen Zeichen, die auf den Eintritt in die finale Phase hindeuten, zu interpretieren. Sie haben aber auch genug Erfahrung, um zu wissen, dass jeder Mensch in seinem Sterben einzigartig ist und dass Statistiken und Wahrscheinlichkeitsberechnungen nur das sind, was sie sind: Gerundete Mittelwerte. Erfahrene Hospizler lassen sich auf die Einzigartigkeit der Menschen und ihrer Sterbeprozesse ein. Ohne Verallgemeinerungen und vor allem ohne Prognosen über den Verlauf und die konkrete Dauer des Sterbens eines bestimmten Menschen. Das würde nicht in ihr Selbstverständnis als Sterbebegleiter passen.
Als mir also vor zwei, drei Wochen eine unserer Koordinatorinnen sagte, es gebe eine Verschlechterung bei meinem Gast, horchte ich natürlich auf. Und erwiderte, dass mir das auch schon aufgefallen sei, dass man aber ja bei meinem Gast nie wissen könne. Was absolut den Tatsachen entspricht: Es gab schon Wochen, in denen er so müde war, dass er meine Besuche komplett verschlief und in denen ich ihm nur kleine Briefe und Katzenzeichnungen hinterlassen konnte, und es gab Wochen, in denen er Ausflüge nach draußen plante und durchführte und mit dem Rollator schneller durch die Gänge huschte, als irgendjemand Huch! sagen konnte.
Aber als ich am Dienstag zu meinem ersten Besuch in dieser Woche zu ihm kam, merkte ich sofort, dass sich die Lage verändert hatte. Normalerweise gehen wir Ehrenamtlichen, wenn wir unsere Gäste zu besuchen, vorher zu einem der diensthabenden hauptamtlichen Kollegen und lassen uns kurz über eventuelle Entwicklungen informieren. Um 17 Uhr, wenn ich komme, ist aber oft viel zu tun und die Mitarbeiter sind irgendwo in den Zimmern oder sonstwo unterwegs. Und ich habe mir, weil ich mit meinem Gast so ein herzliches und unkompliziertes Verhältnis habe, angewöhnt, nicht länger als ein paar Minuten zu warten. Wenn dann kein Hauptamtlicher aufgetaucht ist, dann gehe ich auch ungebrieft zu meinem Gast ins Zimmer.
Es ist noch ein bisschen hell draußen, zum Glück, denn im Zimmer brennt kein Licht. Mein Gast sitzt auf seinem geliebten Sessel, die Augen geschlossen, und sieht irgendwie nicht mehr aus wie mein Gast. Im ersten Moment bin ich verwirrt und es dauert ein wenig, bis ich kapiere, warum er so anders wirkt: Seine Gesichtszüge wirken gleichzeitig erschlafft und angespannt. Schwer zu beschreiben. Er sitzt in seinem Sessel mit einer Wolldecke auf den Beinen und seinem Kopfkissen im Rücken. Im Sitzen ist er zur Seite gerutscht, nur Kopf und Oberkörper, die hängen jetzt ein bisschen zur Seite. Sehr bequem sieht das nicht aus. Vor ihm steht wie immer sein mit allen wichtigen Dingen vollgepackter Rollator, aber ein bisschen vom Sessel abgerückt, was er normalerweise immer sofort korrigiert. Auf meine Begrüßung reagiert er nicht.
Wenn ich das Gefühl hätte, er schliefe, würde ich mich ruhig verhalten, mich entweder leise zu ihm setzen oder das Zimmer wieder verlassen. Er wirkt aber, warum auch immer, nicht schlafend auf mich und so spreche ich ihn noch einmal und etwas lauter an: „Hallo, Herr X. Ich bin es.“
Diesmal höre er mich und er streckt, sehr müde, die Hand zur Begrüßung nach mir aus. Die Augen zu öffnen, ist ihm offenbar zu anstrengend, sie fallen ihm auf halbem Weg wieder zu.
„Alles gut“, sage ich und trete schnell zu ihm, um seine Hand zu nehmen. „Sie sind müde und Sie müssen sich nicht anstrengen. Ich weiß ja, dass Sie sich freuen, mich zu sehen. Ich freue mich auch und ich setze mich einfach still zu Ihnen, okay?“
Er nickt und lässt sich im Sessel wieder zurücksinken. Dabei rutscht ihm der Kopf wieder nach rechts, was ihm ganz offensichtlich nicht lieb ist, wogegen er aber nichts tun kann. Ich stehe auf und versuche, das Kopfkissen in seinem Rücken besser zu positionieren, aber das klappt nicht so richtig, er ist zu unruhig. Auch seine Hände sind immer in Bewegung, er hält sein Handy fest umklammert und mit der anderen Hand zupft er an seiner Wolldecke, seinem Kissen und seiner Wärmflasche herum.
Ich habe ja noch nicht viel Erfahrung mit Sterbenden und dem Wahrnehmen und Deuten von Zeichen, aber mein Gefühl ist ziemlich eindeutig: Mein Gast ist in den Sterbeprozess eingetreten. Er schläft nicht, wirkt aber nur noch gerade eben ansprechbar. Sprechen kann oder will er nicht, obwohl er auf meine Worte reagiert, allerdings vor allem mit Unruhe.
Ich bleibe an diesem Tag nicht sehr lange, sondern verabschiede mich bald, herzlich aber unaufdringlich, und berichte draußen den Kollegen von der Pflege von meinen Eindrücken, vor allem von meinem Gefühl, dass mein Gast vielleicht im Bett besser aufgehoben sein könnte. Sie versprechen, gleich mal nach ihm zu sehen, und ich mache mich beruhigt daran, meinen Feedbackbogen für unsere Koordinatorin auszufüllen.
Wir Ehrenamtlichen sind angehalten, nach jedem Besuch bei unseren Gästen ein kurzes (oder bei Bedarf auch langes) Feedback abzugeben, entweder auf den dafür vorgesehenen Formularen oder – was ich meistens mache per E-Mail. An diesem Abend fühle ich mich aber ganz gut dabei, noch ein paar Minuten im Dienstzimmer zu sitzen und mir meine Formulierungen zu überlegen. Schließlich schreibe ich das, was mein Herz mir vorgibt: „Ich bin angerührt, weil ich den Eindruck habe, dass Herr X. ‚auf dem Weg‘ ist. Wobei das ja nichts Schlimmes ist.“
Dann verabschiede ich mich und fahre nach Hause zu meinen Katzen.
Am Mittwoch sitze ich gerade mittags beim Essen, als mein Telefon klingelt und ich die Nummer des Hospizes im Display sehe. Unsere Koordinatorin ist dran, sie will mich darüber informieren, dass Herr X jetzt auch offiziell als „sterbend“ gilt. Keine Prognosen, wie üblich, aber es ist ihr wichtig, mich zu informieren, um mir zu ermöglichen, meine Besuchspläne gegebenenfalls anzupassen.
Was ich auch mache. Ich fahre schon am Mittwochnachmittag wieder ins Hospiz. Herr X liegt nun im Bett und sieht wesentlich gemütlicher aus als am Vortag. Er ist aber auch schon viel weiter entfernt und scheint die Außenwelt gar nicht mehr so richtig wahrzunehmen. Auf meine Begrüßung und auch eine vorsichtige Berührung seiner Hand reagiert er nicht. Ich finde das nicht schlimm, weil er auf mich wirklich den Eindruck macht, in sich zu ruhen.
Sein Zimmer ist aufgeräumt worden, auf dem Nachttisch liegen nicht mehr die persönlichen Sachen von Herrn X, sondern die Utensilien, die die Kollegen von der Pflege für die Mundpflege brauchten – denn die ist bei Sterbenden wichtig, auch wenn sie nichts mehr essen und trinken (müssen). Die Vorhänge am Fenster sind zugezogen und die Wandleuchten, die ein freundliches, indirektes Licht geben, sind eingeschaltet. Auf dem kleinen Esstisch im Zimmer steht eine Vase mit einer Tulpe und davor stelle ich das Foto von Katze 1 und Katze 2, das bisher so auf der Fensterbank gestanden hat, dass Herr X es von seinem Sessel aus immer im Blick hat. Seine Augen sind zwar geschlossen, aber ich denke, es könne auf gar keinen Fall schaden, wenn die Katzen über ihn wachen.
Ich sitze eine Stunde bei Herrn X am Bett, die meiste Zeit schweigend,und ich habe den Eindruck, dass ihm das gefällt. Vorher hat er sich nie sehr gerne beim Schlafen zuschauen lassen und mich meistens weggeschickt, wenn er zu müde wurde, aber jetzt ist mein Eindruck, dass er es ganz schön findet, dass jemand an seinem Bett sitzt und Anteil an seinem Sterben nimmt. Als ich gehe, verspreche ich ihm, am nächsten Tag wiederzukommen… „wenn Sie dann noch hier sind“. So haben wir uns schon früher manchmal voneinander verabschiedet.
Am Donnerstag ist der Zustand von Herrn X auf den ersten Blick unverändert. Er liegt still im Bett, gemütlich zwischen Decken und Kissen eingemummelt, die Hände entspannt an seinen Seiten liegend. Bei näherer Betrachtung finde ich aber, dass sein Gesicht glatter wirkt als am Vortag. Glatter und … hm… lichter? Sein Atem ist flacher geworden und der Körper zeigt keine Reflexe mehr, Schleim abzuhusten. Dadurch ensteht beim Atmen ein leises Brodel-oder Rasselgeräusch, das ich jetzt zum ersten Mal bei einem Menschen höre, das ich aber nicht schlimm finde. Ihn stört es ja auch nicht. Diesmal bedanke ich mich, bevor ich nach einer Stunde wieder gehe, bei Herrn X für seine Zeit und versichere ihm, dass mir die Besuche bei ihm wirklich Freude gemacht haben. Sage ihm, dass ich ihn nicht vergessen werde und die Katzen auch nicht. Dass seine eigenen Katzen aus früheren Zeiten vielleicht schon auf ihn warten, wenn er jetzt kommt. Natürlich bin ich mir nicht sicher, dass er die Nacht nicht überleben wird, aber mein Gefühl sagt mir – und das erklärte ich ihm auch – dass dies vermutlich meine letzte Gelegenheit ist, ihm diese Dinge noch einmal zu sagen.
Am Abend und auch in der Nacht denke ich mehrmals an Herrn X. Ob er noch atmet? Einfach friedlich hinübergleiten kann? Oder ob er es noch schwer haben wird, kämpfen muss? Und wann ich von seinem Tod erfahren werde.
Am Freitagmorgen bin ich gerade auf dem Weg ins Büro, als mein Telefon klingelt. Unsere Koordinatorin, von der ich weiß, dass sie auch gerade eben erst ihren Dienst angetreten hat, erzählte mir, dass Herr X vor etwa einer halben Stunde gestorben ist. „Er hat esgeschafft“, sagt sie und genau das ist auch mein Empfinden. Sie fragt, ob ich mich noch verabschieden wolle, und ich muss nicht lange überlegen: Ja, will ich. Ich schreibe kurz meinen Kollegen, dass ich mich verspäte, und steige in den nächsten Bus Richtung Hospiz.
Im Hospiz, auf dem großen Kerzenständer im Eingangsbereich, brennen zwei Kerzen, davon eine, die erst vor einigen Minuten angezündet worden ist. Die Kerze für Herrn X. Als ich aus der Garderobe komme und nach oben gehe, merke ich plötzlich, dass ich einen Kloß im Hals habe. Und als ich im Dienstzimmer auf unsere Koordinatorin treffe, stehen mir eventuell Tränen in den Augen und meine Stimme schwankt etwas. Das finde ich aber okay – ein bisschen Heulen hat noch niemandem geschadet. „Es ist gut, dass du jetzt kommst“, sagte unsere Koordinatorin, „dann hast du noch ein paar Minuten mit ihm, bevor die Kollegin kommt, um ihn zu versorgen. Im Moment liegt er da noch so, wie er gestorben ist.“
Dann betrete ich nach einem kurzen Anklopfen das Zimmer von Herrn X. Es ist kühl, denn die Kollegen haben, so wie es Brauch ist, das Fenster geöffnet, damit die erlöste Seele hinausfliegen kann. Die Pflegeutensilien sind abgeräumt, auf dem Nachttisch brennt nur eine kleine Kerze.
Herr X liegt in seinem Bett, nun ohne stützende Seitenpolster. Er ist bis zur Brust mit einer gelben Wolldecke zugedeckt, seine Hände liegen darunter. Seine Augen sind geschlossen, sein Mund leicht geöffnet und er sieht wirklich ganz, ganz friedlich aus. So als hätte er einfach nur aufgehört zu atmen. Seine Haut wirkt eher noch glatter als am Abend zuvor. Ich begrüße ihn leise und streichele seine Hand unter der gelben Decke. Dann nehme ich mir einen Stuhl und setzte mich zu ihm. Noch einmal möchte ich gemütlich mit ihm sitzen und schweigen.
Auf dem Tisch vor der Blumenvase mit der passenderweise über Nacht verblühten Tulpe steht noch immer das Foto von Katze 1 und Katze 2, die freundlich auf die kleine stille Gestalt im Bett blickten. Ich sage leise: „Das habt ihr gut gemacht!“ und überlege kurz, ob ich Foto und Vase auf den Nachttisch stellen sollte. Dann fällt mir wieder ein, dass das sicher die Kollegin von der Pflege machen wird, nachdem sie Herrn X ein letztes Mal versorgt hat.
Ein paar Minuten bei Herrn X genügen mir, um Abschied zunehmen. Ich sage ihm noch einmal, wie sehr ich mich immer gefreut habe, ihn zu sehen, bedanke mich und gehe. Draußen nimmt mich meine Koordinatorin in Empfang und quatscht noch einen Moment mit mir, bis ich aufhöre zu weinen.
Fünf Monate Sterbebegleitung, die das Hospizteam, zu dem ich mich auch zählen darf, geleistet hat, gehen zu Ende, wie vorgesehen mit dem Tod des Gastes. Für die hauptamtlichen Kollegen erst später am Tag, wenn Herr X vom Bestatter abgeholt , das Zimmer ausgeräumt und die Kerze am Eingangsbereich abgenommen wird. Für mich als Ehrenamtliche mit dem Abschied im Zimmer und einem kurzen tröstlichen Verweilen bei den Kollegen (sowie einer Verabredung zu einem Abschlussgespräch in ein paar Tagen), bevor ich draußen ein paarmal tief Luft hole und ins Büro gehe. Heute Abend werde ich mit den Katzen auf dem Sofa sitzen, auf Herrn X anstoßen und einen Blogpost schreiben. Es war eine gute Zeit mit ihm, an die ich mich gerne erinnern werde.
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Und Herr X. ist nun hier mit Deiner Verewigung unsterblich. Ein bisschen. 🙂