Aufmerksamkeitssyndrom und so (Katze 2 erzählt)

Niemand kann sagen, dass ich nicht nett zu meiner Schwester Ida wäre. Wirklich niemand. Sie ist meine Schwester und meine einzige Blutsverwandte, ich war immer mit ihr zusammen und ohne sie wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Ganz klar, Ida ist die Klügere, die Mutigere und die Schnellere von uns beiden. Keine Frage. Sie kann sich viel schneller auf neue Situationen einstellen als ich und nimmt mich dann an die Pfote, ich muss einfach nur an ihr dranbleiben und alles wird gut. Sie beschützt mich, sie putzt mich und sie tröstet mich, wenn ich traurig bin.

Ida ist großartig, aber… Aber sie ist auch eine von denen, die irgendwie immer die Aufmerksamkeit auf sich ziehen müssen. Sie ist ja schließlich Katze 1. Nur weil sie sieben Minuten älter ist oder was? Und außerdem bin ich größer und blonder als sie.

Und trotzdem fällt es Ida immer leichter, in Kontakt zu gehen. Mit fremden Menschen und Tieren sowieso, aber auch mit Bettina. Dabei brauche ich doch ihre Nähe ganz genauso oder sogar noch viel dringender. Aber während ich noch überlege, ob das jetzt ein guter Moment für eine Annäherung ist und ob ich Bettina vielleicht eine Pfote aufs Bein legen sollte, hopst Ida ihr immer schon auf den Schoß, dreht sich zweimal um sich selbst, rollt sich ein und macht ein Nickerchen. Und ich stehe da und denke: Hm.

Die einzige Disziplin, in der ich schneller bin als meine Schwester, ist beim Essen. Nicht beim Verschlingen von Catstickstücken, aber beim Futtern von Nassfutter aus dem Schälchen. Da bin ich echt fix und lasse auch nichts zwischen mich und mein Essen kommen. Einmal tief Luft holen und dann, zack zack, das Schälchen inhalieren, kurz schlucken und dann direkt mal gucken, wie weit Ida denn mit ihrem Essen ist. Super, sie ist erst in der Mitte ihrer Portion und sie ist nett und lässt sich zur Seite schieben, damit ich auch ihr Essen ansaugen kann.

Normalerweise ist das Bettina ja egal und wir bekommen so lange immer noch eine kleine Portion Futter, bis wir beide satt sind. Seit ein paar Tagen aber ist es anders: Bettina stellt unsere Schälchen vor uns hin und bleibt dann stehen und schaut, wer wann was futtert. Und wenn ich mit Ida das Schälchen tauschen will, sagt sie: „Nein, du kleine dicke Wurst, das ist Idas Essen. Bleib du mal bei deinem Schälchen!“

Wurst! Schön wär’s. Als ob unser Katzenfutter irgendeine Ähnlichkeit mit Wurst hätte! Leberwurst zum Beispiel, das wäre was. Aber nichts da: Spezial-Katzenfutter serviert sie uns und dann neuerdings auch noch so ein Zeug, das schmeckt wie Hundefutter in Zement. Ida ist nach drei Tagen in den Hungerstreik gegangen, hat nur noch empört Miau! gesagt und ist zurück aufs Sofa gehüpft. Ich wollte mich an den Protesten auch beteiligen, hatte aber leider gerade den Mund voll. Ich meine, was soll’s? Sehr lecker ist dieses neue Zeug nicht, aber soll ich deswegen verhungern?

Dass ich die Matsche schälchenweise esse, freut Bettina leider nicht halb so sehr wie wenn Ida ein oder zwei Häppchen nimmt. Frechheit. Nur weil sie (Ida, nicht Bettina) vor ein paar Tagen mal Bauchweh hatte? Nur deshalb wird ihr jetzt immer beim Essen zugeschaut und applaudiert, wenn sie ihr Schälchen leermacht? Und wenn sie es nicht leermacht, kommt das Schälchen mit aufs Sofa und Ida darf dort essen?

Das Allerschlimmste ist aber, wenn Ida und Bettina einfach weggehen, ohne mich mitzunehmen! Ida schreit immer und protestiert wie wild, ich solle sie retten und Bettina aufhalten und so, aber ich kann doch nichts tun, wenn sie so blöd war, sich in den Korb stecken zu lassen! Bettina sagt immer, ich solle mir keine Sorgen machen und die beiden seien bald wieder da, aber irgendwie klingt sie dabei so merkwürdig nervös, dass ich nicht weiß, ob ich ihr glauben kann.

Und neulich waren die beiden fünf Stunden, sechsundvierzig Minuten und dreizehn Sekunden weg! So lange waren Ida und ich überhaupt noch nie getrennt! Noch nie! Es war furchtbar. Ich habe gerufen und geweint, aber niemand war da und irgendwann bin ich eingeschlafen und habe geträumt, dass ich für immer allein bleiben muss und Ida und Bettina nie wiederkommen und ich kein Abendessen bekomme und niemand mit mir auf dem Sofa sitzen wird und ich ganz alleine auf dieser Welt bin. Das war so schrecklich!

Als irgendwann dann doch die Tür aufging, mochte ich gar nicht hingehen und nachsehen. Auch nicht, als Bettina nach mir gerufen hat: „Olga, wir sind wieder da! Deine Ida ist wieder da und hat einen rasierten Bauch!“

Erst als ich Idas Krallen auf dem Holzfußboden hörte, als sie aus ihrem Transportkorb stieg, habe ich mich getraut, um die Ecke zu schauen. Da saß sie, meine Schwester, mit rasiertem Bauch und einem Verband an der Vorderpfote. Und sie roch… entsetzlich. Nach vielen fremden Menschen und Sachen. Bettina hatte keinen rasierten Bauch, roch aber genauso. Beide waren völlig erledigt und mochten gar nicht viel reden. Und ich fühlte mich plötzlich wie ein Außenseiter, weil die beiden offenbar ein großes Abenteuer erlebt hatten, zusammen, während ich hier einsam im Körbchen gesessen hatte und dachte, ich wäre jetzt für immer allein.

Es dauerte eine Weile, bis wir uns von diesem Tag erholt hatten. Idas Bauchschmerzen wurden besser, zum Glück, und Bettina kaufte diese merkwürdigen neuen Futtersorten, die keiner von uns wirklich mag. Und fütterte uns mehrmals täglich mit Catsticks, wobei es da auch immer mehr um Ida ging als um mich. Ich bin ja nicht blöd und ich habe genau gesehen, dass Bettina vorher in der Küche so extradicke Stückchen für Ida geknetet hat, die ich dann nicht essen durfte! Ein- oder zweimal habe ich mich darüber so heftig geärgert, dass ich den Catstick hinterher wieder ausgespuckt habe. Da war Bettina dann wenigstens kurz mal auf mich konzentriert und sagte so Sachen wie: „Olga, jetzt fang du nicht auch noch an! Du weißt doch, Ida bekommt die Tabletten nicht aus Spaß, sondern weil sie krank ist.“

Krank, meine Pfote. Ich meine, ich erkenne doch ein Aufmerksamkeitssyndrom, wenn ich es sehe. Der ganze Ruhm und das Katze-1-Sein sind meiner Schwester halt zu Kopf gestiegen. Sie muss immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ob man das als Krankheit sehen will, bleibt dann jedem selbst überlassen. Ich liebe sie trotzdem, sie ist meine Schwester, aber… Oh. Hat da jemand in der Küche ein Tütchen aufgemacht? Da muss ich sofort nach dem Rechten schauen. Sie entschuldigen mich, ja?

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