In dem Seniorenheim, in dem meine Mutter lebt, gibt es zum Glück keinen richtigen Corona-Ausbruch. Puh. Es hat sich zwar eine Mitarbeiterin mit dem Virus infiziert, aber sie hat erfreulicherweise (und weil offensichtlich die Hygienevorschriften dort sehr gut eingehalten werden) niemanden in der Einrichtung angesteckt. Puh.
Die vergangenen drei Tage, in denen das Gesundheitsamt im Heim unterwegs war, alle Kontaktpersonen ermittelt und getestet wurden und dann natürlich auch noch auf die Testergebnisse gewartet werden musste, waren durchaus etwas angespannt. Für uns alle:
- Die Bewohner, die sich fragten, wie lange sie dieses Mal ohne Besuch auskommen müssen und ob sie sich nicht vielleicht nachts aus dem Fenster abseilen sollen, solange sie noch können.
- Die Mitarbeiter, die trotz eines ungeheuren Mehraufwands, um schnellstmöglich Gewissheit über mögliche Coronainfektionen in der Einrichtung zu haben, ja auch noch ihre normale Tätigkeit, nämlich ihre Arbeit mit den Bewohnern und für die Bewohner, ausüben. Gleichzeitig fragen sie sich möglicherweise, ob sie selbst infiziert sein könnten oder aufgrund ihres, in den allermeisten Fällen ja auch seit Monaten stark eingeschränkten, Privatlebens möglicherweise auch ein Risiko für andere darstellen.
- Und uns, die Zugehörigen, die außerhalb des Heims sitzen und sich Sorgen machen, aber auch nicht alle halbe Stunde anrufen und fragen wollen, ob es schon etwas Neues gibt.
Ich bin heilfroh, dass die Nachrichten so gut sind und habe einen neuen Besuchstermin für die nächste Woche ausgemacht. Gleichwohl gehe ich davon aus, dass dies nicht der letzte Corona-Alarm im Heim meiner Mutter gewesen sein wird. Zu stark steigen die Fallzahlen, auch in Hamburg, und zu deutlich vergrößert sich der Prozentsatz der älteren und alten Menschen, die mit dem Coronavirus infiziert werden.
Der Schutz oder besser: die Abschottung der vulnerableren Bevölkerungsgruppen ist nämlich ein echtes Problem, wenn man gleichzeitig das öffentliche und soziale Leben mit so wenig Einschränkungen wie möglich aufrechterhalten will. Und dabei jedem Menschen das Recht auf freie Entfaltung zugesteht, sei es durch das anlasslose Feiern an jedem Abend vor einem Tag ohne frühes Aufstehen, den Besuch des Sportvereins, des Gottesdienstes, eines Opernabends, ungehemmtes Shoppen in überfüllten Innenstädten und das Nicht-Tragen von Mundnasenbedeckungen im öffentlichen Raum. Oder natürlich, das aber nur am Rande, den Besuch von Schule und Kita, gelegentlichen Kontakt mit ausgewählten Familienmitgliedern und Freunden auch für ältere und vorerkrankte Menschen, Besuche in Senioreneinrichtungen, Krankenhäusern und Hospizen sowie zumindest gelegentliche Teilhabe an den Angeboten des öffentlichen Lebens auch für Menschen mit erhöhtem Risiko auf einen erschwerten Krankheitsverlauf z. B. durch die gefahrlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs.
Viele von Ihnen hatten in den letzten Tagen und Wochen erstmalig Hinweise auf Risikobegegnungen in der Corona-Warn-App. Ich auch, zum Glück nur eine grüne Warnung wegen einer Risikobegegnung mit niedrigem Risiko. Diese machte keine Aktion meinerseits notwendig. Trotzdem machte sie mir Angst, vor allem, weil die App mir nicht verraten wollten, wann oder wo die riskante Begegnung denn stattgefunden hat. Wegen Datenschutz, Sie wissen schon. Ich finde Datenschutz eine gute und wichtige Sache, kann mich aber nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er wichtiger sein soll als alles andere, wie zum Beispiel meine Sicherheit oder meine geistige Gesundheit. Wenn mir die App nämlich mitgeteilt hätte, wann und wo ich einem Menschen, der später ein positives Testergebnis bekam, begegnet bin, hätte ich sehr wahrscheinlich sofort gewusst: „Da kann ich mich nicht infiziert haben, weil ich eine FFP2-Maske im Gesicht hatte und außerdem sechs Meter Abstand von der betroffenen Person, die übrigens auch eine Maske trug.“ So aber machte ich mir einige Tage Gedanken und war heilfroh, als die Meldung relativ schnell wieder verschwand.
Im Seniorenheim ist die Warn-App nicht so verbreitet, fürchte ich. Bei den Bewohnern ganz sicher nicht und bei den Mitarbeitern bin ich nicht sicher, ob die den ganzen Dienst über ihr Smartphone überhaupt bei sich haben (dürfen). Ist ja nicht überall zulässig. Die Bewohner tragen in der Einrichtung ja auch keine Masken. Ich dafür eine umso bessere und ich halte so viele Abstand, wie es nur irgendwie geht. Auch zu meiner Mutter, die das aber nicht versteht und mir im Laufe meines Besuchs immer wieder auf die Pelle rückt. Das ist natürlich ein gewisses Risiko, aber eins, bei dem ich bewusst sage: Ich gehe es ein. Aus Gründen der Menschlichkeit und des familiären Zusammenhalts. Trotzdem rutsche ich auf meinem Stuhl immer nach hinten weg, wenn sie ranrobbt, desinfiziere ihr und mir häufig die Hände und nehme meine Maske nicht einmal ab, während ich bei ihr bin. In Kauf genommenes Risiko ist schön und gut, aber es muss nicht größer sein als notwendig.
Was ich sehr gerne wüsste: Wo denn die versprochenen Schnelltests für die Senioren- und Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Hospize etc. bleiben. Gerne auch in ausreichender Menge für Bewohner, Mitarbeiter und Besucher? Seit dem 15. Oktober sind die ja eigentlich beschlossen. Ich hörte etwas von einem Kontingent von maximal 20 Tests (eine andere Quelle sprach sogar von 50) pro Bewohner im Monat. Im Heim meiner Mutter leben 200 Menschen, das wären 4.000 Schnelltests. Das klingt im ersten Moment nicht schlecht, aber bei genauerer Betrachtung ist es doch gar nicht so viel, wenn davon nicht nur die Bewohner und ihre Besucher, sondern auch das Personal der Pflegeeinrichtung einschließlich aller Therapeuten, Seelsorger und Hospizbegleiter getestet werden sollen. Gut, vielleicht hat nicht jeder Bewohner drei verschiedene Besucher pro Woche, aber trotzdem. Das Kontingent ist endlich. Aber in Kombination mit Abstand, Masken, Lüften und Hygiene eben doch so viel besser als nichts – nur: Wo bleibt es???
In Zeiten wie diesen, wo die Neuinfektionszahlen auf bedrohliche Weise ansteigen und die Einschläge täglich näher rücken, fände ich es existenziell wichtig, dass jeder Mensch, der in einer Pflegeeinrichtung ein- und ausgeht, ob aus beruflichen oder privaten Gründen, getestet werden kann. Und das, bevor die Anzahl der größeren Ausbrüche in Seniorenheimen stark zunimmt. Existenziell wichtig heißt: Wichtiger als das Testen von Fußballfans vorm Stadionbesuch oder das Testen eines Opernorchesters, damit man im Orchestergraben in normaler Formation sitzen kann. Sehr viel wichtiger.
Von Weihnachtsmärkten sprechen wir lieber gar nicht erst, denn dann rege ich mich nur wieder auf. Und dabei bin ich doch froh, dass bei meiner Mutter alles okay ist. Auch wenn das nur eine Momentaufnahme ist und die Situation bis zum nächsten Donnerstag, wenn ich sie wieder besuchen gehe, sich auch schon wieder verändert haben kann. Aber im Moment ist alles okay. Immerhin.