Da sein, um loszulassen.

Es war seltsam, meinem Vater beim Sterben zuzusehen. So viele Wochen, eigentlich sogar Monate, hatten wir uns um und für ihn bemüht und darum, ihm das Leben mit seiner Krankheit erträglicher und besser zu machen. Waren dabei meistens in Eile und voller Anstrengung gewesen, nicht zuletzt, um mit seiner Getriebenheit Schritt zu halten. Und nun lag er da, voll mit Schmerzmitteln, dämmerte in einer hoffentlich angenehmen Zwischenwelt dahin und wartete darauf, dass sein Körper das Funktionieren einstellte. Und wir konnten nicht mehr viel für ihn tun, außer da sein und ihm sagen, dass wir bereit waren, ihn gehen zu lassen.

Für uns, die wir am Bett meines Vaters saßen, war diese Situation ganz neu. Die Perspektive hatte sich geändert, nicht nur, weil das Bett jetzt in der Mitte des Zimmers stand, damit man von allen Seiten an meinen Vater herantreten konnte. Und er lag da, schmal und still, uns ausgeliefert und hoffentlich in dem Vertrauen, auch in diesem Zustand bestmöglich umsorgt zu werden.

Es war Samstag, ich hatte den Vormittag im Büro verbracht und war am Nachmittag ins Hospiz gekommen, nachdem ich bei einem Zwischenstopp zu Hause kurz die Katzen versorgt hatte. Nun hatte ich keine Eile mehr, sondern Kriminalroman und Ladekabel fürs Smartphone im Gepäck und war darauf eingestellt, bei Bedarf auch über Nacht bei meinem Vater zu bleiben. Mein Eindruck war, dass er auf seinem Weg auf die andere Seite schon ziemlich weit gekommen war.

Zunächst kam es mir merkwürdig vor, am Bett zu sitzen und zwischendurch auch meinen „eigenen Kram“ zu machen, also mal bei Twitter reinzuschauen oder ein paar Runden Candy Crush zu spielen. Natürlich sprach ich viel mit meinem Vater, sang oder summte ihm auch von Zeit zu Zeit etwas vor, aber wenn er ruhig und entspannt da lag, hatte ich den Eindruck, dass er zwar meine Gesellschaft wollte und auch das Gefühl meiner Hand an seiner Hand, dass er aber keine Ablenkung brauchte. Und ich wollte ja auf keinen Fall seinen Freiraum beschneiden.

Von Zeit zu Zeit verließ ich auch das Zimmer für eine Weile, damit mein Vater sich wirklich ungestört auf sich und sein „Vorhaben“ konzentrieren konnte. Herr L., der wunderbare Pfleger, bestärkte mich sehr in meiner Wahrnehmung und ermutigte mich, meinem Gefühl zu folgen. Am Abend, als mein Freund kam, gingen wir für sogar ganz aus dem Haus, um etwas zu essen und einen kleinen Spaziergang zu machen. Herr L. lobte das sehr und erzählte uns, dass das für sein Empfinden genau richtig sei. Mein Vater wisse ja, dass wir alle für ihn da seien und jederzeit kommen und bleiben würden, wenn er es wünsche, aber es sei auch sehr gut, ihn zwischendurch mal sich selbst zu überlassen.

Herr L. hatte auch an dem Tag vor nunmehr fast fünf Wochen, an dem mein Vater ins Hospiz eingezogen war, Spätdienst gehabt, hatte und ihn im Hospiz aufgenommen und war so sein erster Ansprechpartner geworden. Und geblieben, trotz all der großartigen Kollegen, mit denen er sich die Dienste geteilt hatte. Ich war froh, dass er jetzt in diesen letzten Tagen meines Vaters wieder Dienst hatte und bei ihm sein konnte.

Wir halfen Herrn L. später am Abend dabei, meinen Vater für die Nacht vorzubereiten. Ihn umzubetten, ohne ihm dabei Angst zu machen oder Schmerzen zu bereiten, war eine ausgetüftelte und äußerst sensible Angelegenheit. Herr L. gab meinem Freund sehr genaue Anweisungen, wo und wie er anfassen, halten, drehen und ziehen sollte. Ich war überwiegend dazu abkommandiert, zu beobachten, ob mein Vater die Stirn verzog, weil ihm etwas wehtat. Wir sprachen die ganze Zeit mit ihm und erklärten ihm, was wir jetzt tun würden. Er blieb ganz ruhig und ich bewunderte das Vertrauen, das er trotz seiner Hilflosigkeit offenbar in uns und die Situation hatte.

Ich sprach über mein Gefühl, dass dies vielleicht die letzte Nacht meines Vaters sein würde. Herr L. ging darauf sehr freundlich ein und sagte mir, dass er noch keine ganz direkten Anzeichen, z. B. Veränderungen in der Atmung, dafür sähe, dass mein Vater wirklich schon an der Schwelle zum Tod stehe. Er war der Meinung, ich könne die Nacht ruhig in meinem eigenen Bett verbringen… ich könne ja auch jederzeit wiederkommen, wenn ich das Gefühl habe, es sei notwendig.

Klingt gut, dachte ich und sagte zu meinem Vater: „Weißt du, wir tun, was du möchtest. Oder das, was wir glauben, dass du es möchtest. Wenn du alleine sein willst, ist das okay. Wenn du möchtest, dass wir hier sind oder einer von uns, dann musst du uns ein Zeichen geben, okay? Ich weiß, dass du das kannst. Aber du musst es machen, wie es für dich leichter und richtig ist, du brauchst keine Rücksicht zu nehmen. Wenn du alleine sein willst, dann ist das in Ordnung.“

Nachdem ich das gesagt hatte, fühlte ich mich ein bisschen besser in meiner Unsicherheit und beschloss, wirklich über Nacht nach Hause und zu meinen Katzen zu gehen. Ich wollte nur noch auf den Nachtdienst, der Herrn L. um 22 Uhr ablösen würde, warten und mich kurz mit dieser Kollegin besprechen. Mein Freund ging irgendwann schon mal nach Hause, auch er hatte einen langen Tag gehabt und wir waren am nächsten Tag als Frühbesucher vorgesehen. So saß ich dann irgendwann alleine am Bett meines Vaters und ließ die Zeit verstreichen.

Es war eine eigenartige Stimmung in der zweiten Etage des Hospizes. Mein Vater bewohnte ein Eckzimmer am Ende des Ganges. Im Zimmer nebenan befand sich eine türkische Dame, die ungefähr im selben Stadium war wie er, d. h. auch sie lag im Sterben. Sie hatte immer viel Besuch gehabt, ihre Töchter waren in den letzten Tagen und Wochen fast durchgehend dagewesen (sogar nachts hatten sie sich immer abgewechselt, glaube ich) und auch ihr Ehemann verbrachte viel Zeit im Hospiz. Wir hatten nie viel Zeit gehabt, einfach nur so miteinander zu plaudern, aber allein die räumliche Nähe und das Wissen darum, dass die jeweils andere Familie sich in einer sehr vergleichbaren Situation befand, genügten für ein erstaunlich starkes Gefühl der Verbundenheit. An diesen letzten Tagen trafen wir uns immer nur kurz in der Wohnküche, umarmten uns, trösteten uns gegenseitig und wünschten uns Kraft. Miteinander und der jeweils anderen Familie. (Die Töchter kamen an diesem Wochenende sogar, als gerade meine Mutter und mein Bruder bei meinem Vater saßen, in unser Zimmer und baten, sich kurz von ihm verabschieden zu dürfen.)

Ich war zunächst etwas überrascht darüber, dass es bei unseren Nachbarn am Samstagnachmittag und -abend nicht, wie bei uns, langsam stiller und friedlicher wurde, sondern immer belebter und lauter. Offenbar kam die gesamte Verwandtschaft der Zimmernachbarin noch einmal vorbei. Und irgendwann kam dann sogar die Stimme eines Imam vom Band, es wurde gebetet und aus dem Koran rezitiert. Google bestätigte meine Annahme, dass dies ganz normale Sterberituale im Islam sind. Vor allem der „letzte Besuch“ ist von großer Wichtigkeit für die Verabschiedung der Sterbenden aber auch für die Selbstreflexion der Lebenden.

Unsere Nachbarin hatte offenbar eine große Verwandtschaft und ich geriet etwas in Stress mit der Frage, ob ich die Zimmertür meines Vaters öffnen oder schließen sollte. Diese Tür hatte ja fünf Wochen lang mehr oder weniger durchgehend offen gestanden und ich wusste, dass mein Vater die Geräusche des Hauses und ihrer Bewohner mochte. Ich hatte mein frisch ergoogeltes Wissen mit ihm geteilt und wir hatten den durch die Wand dringenden Rezitation des Konserven-Imam gelauscht. Auch die Gespräche der Besucher nebenan störten ihn nicht, vermutete ich. Bei gelegentlichem Schluchzen war ich mir schon nicht mehr sicher… Außerdem wollten wir ja auch unsere Nachbarn in der freien Ausübung ihrer Rituale und im Ausleben ihrer Gefühle weder „belauschen“ noch behindern. Es war für sie sicher ja ohnehin nicht so einfach, sich in einem zwar nicht konfessionellen, aber eben doch in christlich-westeuropäischer Tradition geführten Hospiz ganz unbefangen zu tun, was sie tun mussten und wollten. Zumindest vermutete ich das.

Ich besprach das alles mit meinem Vater und kam zu der Überzeugung, dass er richtig finden würde, was ich als richtig befand. So kam es, dass ich die Zimmertür im Laufe des Abends ungefähr drölfzigtausendmal öffnete und wieder schloss. Trotzdem kam mir die Atmosphäre sehr intim und intensitätsgeladen vor.

Irgendwann kam dann die Spätdienst-Kollegin, die mir versprach, meinen Vater über Nacht gut zu betreuen und mir Bescheid zu geben, wenn sie das Gefühl hatte, es sei notwendig. Dann verabschiedete ich mich von meinem stillen Vater, der kein Zeichen gab, dass es ihm lieber wäre, ich bliebe, und ging – mit durchaus gemischten Gefühlen – nach Hause

2 Kommentare

  1. Ach, ich konnte jetzt einige Post (aus Gründen) hier nicht lesen und jetzt habe ich es geschafft und nu‘ sitze ich hier und heule ein bisschen. Es ist alles so traurig und dennoch gut und … ach und ich bin so froh für Dich, dass Du da einen so guten Mann an Deiner Seite hast! <3

    1. Danke! Ich bin auch sehr froh über meinen Freund und darüber, dass er meinen Vater noch kennenlernen durfte (und umgekehrt). Die beiden haben sich sehr gemocht und das macht mich (und meine Mutter) sehr froh. Das Aufschreiben der „Geschichte“ hilft mir wirklich sehrsehrsehr und es macht mich glücklich, dass ein paar Menschen das auch lesen mögen. Danke dir fürs Lesen und fürs Weiterempfehlen! <3

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