Dann bin ich eben böse: Mein Bekenntnis zum polnischen Abgang.

Neulich bestellte ich in der Cocktailbar meines Vertrauens – nur aus Neugier und weil ich den Namen lustig fand – einen Drink namens „Polnischer Abgang to go“. Er bestand aus Wodka, Apfelsaft, Minze sowie Soda und schmeckte gut, konnte jedoch an den unfassbar leckeren „Zitronenblitz“, den ich vorher genossen hatte, nicht heranreichen. Er war aber ein sehr geeigneter letzter Drink des Abends, als der er auch gedacht war. Insofern: Keine Beschwerden.

Einige Tage später googelte ich – nur aus Neugier und weil ich den Namen lustig fand – was ein polnischer Abgang denn eigentlich ist. Und fühlte mich augenblicklich besser und in einer Verhaltensweise bestätigt, die ich zwar schon seit Jahren immer wieder (und tendenziell immer häufiger) praktiziere, die mich aber auch oft mit dem Anflug eines schlechten Gewissens erfüllt hatte: Ich verlasse Veranstaltungen manchmal einfach so, in einem unbeobachteten Moment, ohne mich zu verabschieden. Und mit Veranstaltungen meine ich nicht ausschließlich Massenveranstaltungen, sondern durchaus auch private Partys. Nicht unbedingt die Sorte mit weniger als zehn Teilnehmern, wo man den ganzen Abend rund um den Esstisch sitzt, aber bei eigentlich fast jeder Art von Treffen, bei dem sich aus den Anwesenden sowieso Kleingruppen bilden und keiner mehr einen Überblick über das Gesamtgeschehen hat. In ein oder zwei Fällen habe ich mich sogar noch nicht einmal vom Gastgeber verabschiedet, obwohl die Party in seiner privaten Wohnung stattfand.

Und nun las ich, völlig entzückt, dass ich mit meinem Verhalten voll im Trend liege – und dass es genügend Argumente gibt, die den polnischen Abgang keineswegs egoistisch und gedankenlos aussehen lassen, sondern im Gegenteil seine Selbstlosigkeit oder zumindest seine Rücksichtnahme gegenüber dem Gastgebern und seinen Gästen in den Vordergrund rücken:

  • Man reißt niemanden aus der Feierlaune.
  • Man verhindert, dass alle anderen Gäste, die den Abschied mitbekommen, wie die Lemminge ebenfalls gehen wollen, um nicht irgendwann als Letzte dazusitzen und gar nicht mehr wegzukommen.
  • Man muss nicht erklären, wie es zu der zerbrochenen Klobrille kam.
  • Man lässt sich nicht überreden zu bleiben, obwohl man nur noch sabbernd auf dem Sofa einschlafen oder in eine Topfpflanze kotzen könnte (die Schadensbegrenzung ist vor allem bei spätabendlichen Polnischen Abgängen nach Alkoholgenuss ein wichtiger Faktor).
  • Der polnische Abgänger erarbeitet sich ein mysteriöses Image, vor allem bei Veranstaltungen mit mehreren polnischen Abgängern und den Mutmaßungen der noch anwesenden Gäste, mit wem man wohl verschwunden sein könnte.

Im Übrigen ist der polnische Abgang keine Erfindung der Neuzeit, sondern quasi parallel in mehreren Jahrhunderten an verschiedenen Orten erfunden worden (zum ersten Mal erwähnt wurde er offenbar im 4. Jahrhundert irgendwo in China – oder ich habe was falsch verstanden). Deswegen heißt er auch regional unterschiedlich.

„Von einem Fest zu verschwinden, ohne sich von Gastgebern und Gästen zu verabschieden, heißt im Deutschen entweder einen polnischen Abgang oder Abschied machen (vor allem in Berlin und im Osten) – oder sich französisch verabschieden (eher in Westdeutschland). Beide Nationen sind an diesen Ausdrücken vollkommen schuldlos, denn weder in Polen noch in Frankreich wird traditionell die Kultur des Nichtabschieds gepflegt. Dass diese Form des Abschieds eher beliebig nach Nationen benannt wird, zeigt sich auch daran, dass das, was in Deutschland polnisch heißt, in Polen englisch heißt und in England französisch und in Frankreich wiederum englisch. Es sind immer die anderen, die sich davonschleichen.“

Matthias Stolz und Ole Häntzschel im ZEITmagazin Nr. 46/2014 20. November 2014

Im weiteren Verlauf kommen die Autoren des zitierten Artikels wie auch manch anderer, der sich dem Phänomen auf wissenschaftliche Weise genähert hat, zu dem Schluss, dass der polnische Abgang keineswegs immer als unhöflich zu betrachten ist, sondern durchaus Vorteile mit sich bringt. Sofern er korrekt ausgeführt und nicht verstolpert wird.

Die wichtigsten Regeln für einen perfekten polnischen Abgang:

  • Verhalte dich unauffällig. (Das versteht sich ja wohl von selbst.)
  • Weihe niemanden ein. (Ein angekündigter polnischer Abgang = tschechischer Abgang.)
  • Nutze den Moment. (Es erfordert möglicherweise etwas Übung, diesen zu erkennen.)
  • Dreh dich nicht um. (Egal, was man dir hinterherschreit.)
  • Kein schlechtes Gewissen.

Meine Erfahrungen mit dem polnischen Abgang sind übrigens durchweg gut. Natürlich darf man am Abend selbst nicht mehr erreichbar sein („Wie weit bist du denn schon weg? Ich finde es hier auch sehr langweilig, wollen wir nicht noch was trinken gehen?“). Am nächsten Tag spricht mich kaum noch jemand auf mein Verschwinden an – entweder waren zum Schluss der Party alle, die noch da waren, so betrunken, dass sie sich heute sowieso an gar nichts erinnern, oder mein Verschwinden hat zunächst leise Befremdung hervorgerufen, ist aber im weiteren Verlauf des Abends wieder vergessen worden. Weil ich so wahnsinnig wichtig für diese Veranstaltung gar nicht war und mich im Grunde niemand vermisst hat.

Nur zu Testzwecken und um Ihnen konkrete Beispiele nennen zu können, habe ich den polnischen Abgang an diesem Wochenende schon zweimal durchgeführt (und es ist erst Sonntag!): Gestern in komplett klassischer Manier bei der Langen Nacht der Theater. Ich war bis 21.30 Uhr offiziell eingeteilt, am Infostand mit Kartensonderaktion. Anschließend übernahmen die Kollegen vom Ballett und ich hätte Gelegenheit gehabt, mir das eine oder andere Programm anzuschauen oder an irgendeiner anderen Stelle im Haus auszuhelfen, wo gerade jemand benötigt wird. Statt dessen nahm ich mir das Körbchen mit Büromaterialien, mit denen ich den Infostand am frühen Abend eingerichtet hatte und sage: „Ich bringe den Kram mal eben ins Büro, damit er nicht verloren geht. Bis gleich.“ Tänzelte dann durch die Menschenmenge, wechselte mit vielen Kollegen noch ein fröhliches Wort, verabredete mich etwas vierzehnmal für Mitternacht auf ein Feierabendbier, betrat den Bürotrakt durch den vorderen Eingang, brachte das Körbchen ins sichere Büro, verschwand durch den dunklen Hintereingang, ging nach Hause und lag um halb elf im Bett.

Am Freitag war es nicht ganz so klar, wie die Sache ablaufen sollte und ob sie wirklich gelingen würde: Eine Ausstellungseröffnung ist eigentlich auch ein Klassiker für unauffällige Abgänge, natürlich. In diesem Fall handelte es sich allerdings um die Eröffnung einer Ausstellung mit Arbeiten meines Vaters. Ich ließ mich also zu Beginn des Abends mehrmals vor verschiedenen Bildern und mit diversen mir unbekannten Menschen fotografieren, plauderte mit einigen mir bekannten Menschen, hielt eine schockierende Rede („Ich mochte die Grafiken meines Vaters eigentlich nie besonders…“), beantwortete ein paar Fragen, wurde noch mehr fotografiert, ließ mir ein Mineralwasser im Plastikbecher aushändigen, fächelte mir mit ein paar Flyern Luft zu und trat mal eben vor die Tür in den Innenhof. Dort saß, unauffällig in der Ecke und schon in der Nähe des Parkplatzes, mein Freund auf einer Bank. Ich setzte mich „kurz“ zu ihm und fröhlich winkten wir den ersten Heimgehenden zum Abschied zu. Viele Ausstellungsbesucher kamen schnell mal vor die Tür, weil es ihnen drinnen zu laut und zu warm vorkam. Sogar meine Mutter, die sagte, sie hätte volles Verständnis, wenn wir nicht ewig bleiben wollten. Als dann gerade mal keiner guckte, fühlten wir uns geradezu verpflichtet, uns unauffällig um die Ecke zu schleichen, ins Auto zu steigen und davonzubrausen. So saßen wir dann gegen acht entspannt beim Essen, gegen halb neun in der Cocktailbar unseres Vertrauens und um halb zehn konnte mein Freund mich schon im Zustand fortgeschrittener Betrunkenheit (also, ich war betrunken, er nicht so) in ein Taxi stopfen und nach Hause schicken.

Polnischer Abgang für Fortgeschrittene ist übrigens, wenn man sich von der eigenen Party entfernt, ohne sich zu verabschieden:

„Die Benimmbücher, in denen ich nachgeschlagen habe, schreiben, dass man sich bei Einladungen nicht stumm entfernen, sondern verabschieden soll. Das bezieht sich dort allerdings auf die Gäste, nicht auf die Gastgeber. Dass die ohne Gruß verschwinden, kommt den Verfassern von Benimmbüchern vermutlich nicht einmal in den Sinn.“

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Die Gewissensfrage aus Heft 43/2012 Die Gewissensfrage

Als Gastgeber bin ich bisher immer bis zum Ende der Party geblieben. Manchmal halb schlafend, oft sabbernd, sehr oft mit Bedauern. Der Gedanke, Besucher einfach auf dem Sofa sitzen zu lassen und selbst gemütlich erst ins Bad und dann ins Bett zu gehen, ist – meine Wohnung ist ja eher klein – etwas befremdlich. Und trotzdem irgendwie verlockend. Man soll ja immer mal eine Herausforderung angehen, die einem ein bisschen Magendrücken bereitet. Vielleicht werde ich das also irgendwann einmal ausprobieren. Nur so als Mutprobe.

 

Ach übrigens: Diese andere Praxis, sich nach privaten Einladungen am nächsten Tag noch einmal – vorrangig telefonisch – beim Gastgeber zu bedanken, OBWOHL man sich am Abend vorher ordnungsgemäß verabschiedet (und bedankt) hatte, gefällt mir auch nicht und ich nehme jede Ausrede wahr, um den fälligen Anruf so lange hinauszuzögern, bis er dem Angerufenen auch keine Freude mehr macht. Aber das gilt natürlich weiterhin als schlechtes Benehmen und wird leider wohl nie Mode werden.

4 Kommentare

  1. Doch doch, den Ausdruck kannte ich. Ich habe das auch schon öfters angewendet, aus verschiedenen Gründen. Weil ich nicht wollte daß sich jemand für den Nachhauseweg an mich ranhängt (vor allem bestimmte Leute, mit denen man Kompromisse für die Wegstrecke eingehen müsste), weil ich ins Bett musste um früh aufzustehen (im Gegensatz zu den Hardcore Party Animals), oder auch mal weil die Party ganz einfach fad war.

    Pikantes Detail: die Franzosen nennen das filer à l’anglaise (bloody frogs!) , die Engländer sagen french leave (ah, les Rosbifs, Scrogneugneux!). Und jetzt gehe ich tschechischer Abgang googeln.

    Schönen Sonntag noch <3

    1. Stimmt, das mit dem gemeinsamen Heimweg, den ich bei manchen Personen (vielen) unter gewissen Umständen (meistens) umgehen möchte, kenne ich auch. Aber leider auch die saudämliche Variante mit „Ich mache einen kleinen Umweg, um Sowieso nicht zu treffen“, die meistens dazu führt,dass man morgens irgendwo, wo kein Bus vorbeikommt, im Straßengraben zu sich kommt und nicht mehr weiß, warum man nur noch einen Schuh trägt.

      (Danke für die guten Sonntagswünsche, die gehen natürlich auch zurück – ich denke gerade oft an dich!)

  2. Ich kenne „sich auf französisch verabschieden“, aber auch nur von Hörensagen. Allerdings habe ich auch schon den einen oder anderen polnischen (Eil-)Abgang absolviert, gerne auf Betriebsfeiern: vorne rein, Runde durch den Saal, kurz alle hofieren, die hofiert werden müssen, hinten wieder raus. Vom Gastgeber verabschiede ich mich aber (auf privaten Feiern) immer.

    1. Bei Betriebsfeiern bietet sich das ja auch geradezu an. Auch bei Betriebsausflügen geht es ganz gut – bei uns treffen sich da meist immer dieselben Verdächtigen am Bahnhof für den ersten Zug zurück nach Hause. Das funktioniert mittlerweise so reibungslos, dass wir uns nicht einmal mehr gegenseitig zum Stillschweigen verpflichten müssen.

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