Das Pferd auf der Schnellstraße (featuring Schutzengel and some awesome people)

Worüber schreibe ich diese Woche? Nicht schon wieder über meine Mutter (sie erholt sich ganz gut und kommt am Dienstag nach Hause, danke der Nachfrage), nicht über Weihnachten (ist etwa bald Weihnachten?) und nicht über die hungrigsten Katzen der Welt. Obwohl… ach nein, das spare ich mir für Weihnachten auf. Über meinen Freund könnte ich schreiben, der macht coole Sachen… aber er mag es nicht besonders, wenn ich über ihn schreibe. Irgendwie hat er ein anderes Verständnis von Datensicherheit und Privatsphäre im Internet als ich.

Sie sehen, mir bleibt gar nichts anderes übrig, als wieder einen Schwank aus meiner Jugend neu aufleben zu lassen. Es tut mir ja auch leid, aber da müssen wir jetzt durch, Sie und ich. Ich erzähle Ihnen also eine Geschichte, die ich noch nie jemandem erzählt habe. Eine Geschichte, die um ein Haar zu einer Katastrophe geführt hätte und – dem Himmel und einigen großartigen Menschen sei Dank – dann doch gut ausging. Ein Erlebnis, das mich, wenn ich es nicht jahrelang verdrängt und abgespalten hätte, noch wesentlich neurotischer gemacht hätte als ich ohnehin bin, da bin ich sicher. Auch heute kann ich nur sehr vorsichtig daran vorbeidenken (danke, Uwe Johnson, für dieses Wort!), um mich überhaupt zu erinnern.

Es geht um die Geschichte, in der ich fast den Tod eines Pferdes verschuldet hätte. Meines Pferdes. Ja, ich hatte als Teenager für ein paar Jahre ein eigenes Pferd. Tosca, eine dicke braune Holsteinerin, die nach ein paar Jahren Mutterschaftsurlaub auf einer grünen Wiese zum Verkauf gestanden hatte. Tosca war eine gutmütige, freundliche Stute, die irgendwann in ihrer früheren Jugend mal eine Weile geritten worden war, dann aber ein Fohlen bekommen hatte und anschließend irgendwie auf der Weide vergessen worden war. Sie hatte im Prinzip nichts dagegen, wieder zum Reitsport herangezogen zu werden, aber auch einen gut ausgebildeten Dickschädel, wenn sich meine Interessen gerade nicht mit den ihren in Einklang bringen ließen.

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Ich war nie eine tolle Reiterin (weil ich mit meinem dicken Hintern und hüpfenden Weichteilen am Oberkörper im Sattel nicht elegant aussah, hatte mich ein guter Sitz nie besonders interessiert), normalerweise taten Pferde aber das, was ich von ihnen wollte… wahrscheinlich vor allem, weil sie wegen meines Gewichtes meine Anwesenheit auf ihrem Rücken nicht einfach ignorieren konnten. Allerdings – und das hatte auch mit meinem Gewicht und vor allem mit diesen lästigen physikalischen Gesetzen wie Schwerkraft zu tun – fiel ich häufiger mal vom Pferd. Das war immer so gewesen und hatte mich auch nie besonders gestört. Ich fiel entspannt und tat mir dabei kaum weh. Wichtig war vor allem, die Zügel festzuhalten, damit das Pferd sich nicht selbstständig machte. Das klappte bei mir meistens. Dann stand ich auf, klopfte mir den Staub ab (dass man das Krönchen richten muss, wusste ich damals noch nicht) und stieg zurück aufs Pferd.

Tosca und ich kannten uns noch nicht besonders gut, als ich beschloss, mit zwei Schulfreundinnen einen Ausritt zu unternehmen. Die Freundinnen besaßen ihre Ponys schon länger und kamen gut zurecht, obwohl sie beide keine besonders sicheren Reiterinnen waren. Die Ponys standen in einem anderen Stall und Tosca kannte sie beide nicht. Darüber machte ich mir aber leider damals keine Gedanken.

Obwohl sich unsere Reitställe in einer recht ländlichen Gegend befanden und es rundherum Baumschulen und Felder gab, in denen man reiten durfte, lag der nächstgelegene Wald mit richtigen Reitwegen zwei oder drei Kilometer entfernt. Ein schöner Wald und Ausritte dorthin waren immer Höhepunkte des Reiterlebens. Man konnte ihn fast auf kleinen landwirtschaftlichen Nebenstraßen erreichen, musste aber ganz zum Schluss noch eine Schnellstraße überqueren. Über diese Schnellstraße führte eine große gewundene Brücke, von der die verschiedenen Auf- und Abfahrten für die Schnellstraße abgingen. Ich war schon oft über diese Brücke geritten und hatte mich dabei immer etwas mulmig gefühlt, obwohl nie irgendetwas passiert war. Alle Pferde, mit denen ich unterwegs war, galten als „verkehrssicher“ und Autofahrer im ländlichen Raum waren damals eigentlich grundsätzlich klug genug, von Pferden ein paar Meter Abstand zu halten.

Auch diesmal ging alles entspannt und locker. Von der Brücke bis zum ersten richtigen Waldreitweg waren es nur noch wenige hundert Meter auf einer kleinen asphaltierten Straße und wir genossen den trockenen Herbsttag. Auf Asphalt reitet man eher langsam, um die Beine des Pferdes vor zu harten Stößen zu schonen, und wir freuten uns auf den ersten Galopp auf weichem Boden. Die Pferde freuten sich auch, nun ein bisschen Tempo machen zu dürfen, und so juckelten wir los. Da Tosca größer war als die beiden Ponys und größere Galoppsprünge machte, führte ich die Gruppe an. Bis hinter einer Biegung plötzlich ein fremder Reiter auf einem kleinen Schimmel auftauchte.

Tosca sah das fremde Pferd, machte eine Vollbremsung und drehte sich blitzschnell zur Seite. Ich reagierte nicht so schnell und segelte mit viel Schwung (danke, Schwer- und Fliehkraft!) über ihren Hals und landete auf dem weichen Waldboden. Wie immer, ohne mir weh zu tun. Aber leider ohne Zügel in der Hand. Und mein Pferd, das sich offensichtlich heftig erschrocken hatte, drehte sich sofort um und trabte den Weg wieder zurück, den wir gekommen waren.

In dem Moment wurde mir klar, dass es nicht besonders schlau gewesen war, mit zwei Ponys loszuziehen, die mein Pferd nicht kannte. Pferde sind Fluchttiere und wenn sie sich erschrecken oder Angst haben, wollen sie weg. Am liebsten nach Hause, in ihren Stall und zu ihren vertrauten Kumpels.

„Die läuft nach Hause“, sagte der Reiter auf dem Schimmel.

„Aber sie kennt doch den Weg gar nicht“, rief ich entsetzt, „und sie muss über die Schnellstraße!“

„Ihr reitet langsam hinterher“, empfahl der Reiter meinen beiden Freundinnen, die schreckensstarr auf ihren lammfrommen Ponys saßen. „Vielleicht hält sie ja irgendwann an.“

Meine Freundinnen nickten und setzten ihre Ponys in Bewegung.

„Und ich?“ fragte ich.

„Auch hinterher“, meinte er. „Vielleicht geht es quer über die Wiese ja schneller.“

Wir waren im Bogen um eine leere Kuhweide herum geritten, das stimmte. Die Luftlinie bis zur Schnellstraße war gar nicht so lang. Trotzdem… ich wusste nicht, ob vielleicht irgendwo auf der großen Weide ein unüberwindlicher Graben war. Egal. Ich musste irgendwie so schnell wie möglich hinterher und mein Pferd wiederfinden. Meine Freundinnen waren bereits außer Sicht und auch der Mann auf dem Schimmel wollte jetzt offensichtlich seinen Ausritt fortsetzen.

Ich rannte, so schnell ich irgendwie konnte, über die Weide. Immerhin waren in dieser Jahreszeit keine Jungbullen mehr draußen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ewig zu brauchen, um auf die andere Seite zu kommen. Auf jeden Fall hatte ich genug für diverse Stoßgebete und Versprechen an meinen Schutzengel, immer brav und gesetzestreu zu bleiben, wenn nur bitte meinem Pferd nichts passierte. Mühsam krabbelte ich durch einen Knick und über einen Zaun am Ende der Weide.

Auf der Straße war niemand zu sehen. Kein Pferd, keine Menschen. Ich hechelte schon und schwitzte wie ein Schwein, rannte aber so schnell wie möglich weiter. Vor meinem geistigen Auge sah ich bereits einen riesigen blutigen Blechhaufen auf der Straße liegen. Wie hatte ich nur so leichtsinnig sein können?

In ungefähr hundert Metern Entfernung von mir war das nächste Haus, ein kleiner privater Reitstall, wie ich wusste. Aus der Einfahrt dort kam plötzlich ein Auto und fuhr auf mich zu. Die Fahrerin, eine junge Frau, öffnete die Beifahrertür und rief: „Suchst du dein Pferd? Das ist auf die Schnellstraße gelaufen! Steig ein!“

Auf die Schnellstraße? Oh Scheiße. In mir stieg jetzt endgültig eine kalte Angst auf, die mich wohl total blockiert hätte, wenn die Fahrerin des Autos nicht klare Ansagen gemacht hätte. Ohne weiter nachzudenken stieg ich ins Auto, wir wendeten und fuhren mit quietschenden Reifen zur Schnellstraßen-Auffahrt.

Die junge Frau erzählte mir, während sie ohne zu zögern auf die Straße fuhr, dass sie Tosca an ihrem Hof vorbeigaloppieren gehört hatte. Auch, dass die Stute nicht auf die Brücke, sondern direkt auf die Straße gelaufen war. Also hatte sie ihr Auto geholt und sich auf den Weg gemacht, um nach dem verlorenen Reiter zu suchen. Was für ein Glück! Ich war zu angespannt, um viel zu sagen, aber allein das Gefühl, mit der Situation nicht allein zu sein, machte mich unfassbar dankbar.

Neben der Schnellstraße gab es einen relativ breiten Grünstreifen, der oft von Reitern benutzt wurde. Auch ich war hier schon häufiger neben der Straße hergaloppiert. Ich hoffte inständig, dass Tosca diesen Grünstreifen entdeckt hatte und ihn dem harten Straßenbelag vorgezogen hatte.

Und tatsächlich. Es dauerte nicht lange, bis wir sie sahen. Meine wunderbare Tosca, gesund und munter. Freundliche Menschen und ein paar am Straßenrand geparkte Autos. Ich weiß, es klingt fast unglaublich, aber es handelte sich um eine ländliche Gegend und es war Sonntag und Mittagessenszeit. Das heißt, die einzigen Menschen, die unterwegs waren, waren offenbar Reiter. Alle anderen saßen schon beim Mittagessen. Und es war wirklich so, dass verschiedene Menschen, die Ahnung von Pferden hatten, sich gegenseitig aber nicht kannten, hintereinander auf dieser Schnellstraße fuhren. Sie sahen das reiterlose Pferd und kreisten es – ohne vorherige Absprache – vorsichtig ein. Erst mit ihren Autos, dann zu Fuß. Und Tosca, die sich inzwischen ausgetobt hatte und wahrscheinlich ein bisschen einsam fühlte, war ganz froh, dass sich jemand um sie kümmerte, und ließ sich ohne Weiteres einfangen.

Erst im Nachhinein wurde mir klar, was für ein Risiko diese freundlichen Menschen für mein Pferd und mich eingegangen waren: Wenn Tosca keine bodenständige Holsteinerin gewesen wäre, hätte sie vielleicht angesichts der fremden Menschen und Autos erst recht gescheut und wäre wieder auf die Straße und mitten zwischen die Autos gelaufen. Es hätte alles Mögliche passieren können und die freundlichen Helfer hätten ihr beherztes Eingreifen möglicherweise heftig bereut.

Es war aber nichts passiert. Tosca war unversehrt und hatte sich beruhigt. Die freundlichen Menschen hatten ihr den Sattelgurt gelockert und sie auf- und abgeführt. Sicher hätten sie sie auch in einen sicheren Stall gebracht, wenn ich nicht dank meiner motorisierten Retterin so schnell aufgetaucht wäre. Aber so vergewisserten sie sich nur noch, dass mit mir alles in Ordnung war und dass ich mir zutraute, mein Pferd wieder zu übernehmen. Dann verabschiedeten sie sich freundlich und überließen Tosca und mich unserem Schicksal.

Ich war zwar etwas wacklig auf den Beinen, ging aber zu Fuß neben meinem Pferd her, bis wir die Schnellstraße verlassen und auf die nach Hause führenden Feldwege abbiegen konnten. Dann zog ich den Sattelgurt wieder fest und bestieg mein Pferd. Irgendwo auf diesem Teil des Weges fand ich auch meine Freundinnen auf den Ponys wieder, die schon fast die Hoffnung aufgegeben hatten, Tosca und mich heil wiederzusehen.

Wie ich schon sagte, ich habe dieses Erlebnis dann so schnell wie möglich „vergessen“. Auch mit den beiden Schulfreundinnen habe ich nie wieder darüber gesprochen. Ich kam später nicht einmal mehr auf die Idee, mich wenigstens bei der Frau mit dem Auto zu bedanken, obwohl ich wusste, von welchem Reiterhof sie gekommen war. Die anderen freundlichen Menschen hatte ich ja nur auf der Straße gesehen, sie waren aus ihren Autos gestiegen, um Tosca in Sicherheit zu bringen, und waren dann weitergefahren. Trotzdem hätte ich ja einfach alle Reitställe der Umgebung abklappern können. Es kam mir aber nicht in den Sinn… mir fehlten einfach die Mittel, dieses Erlebnis zu verarbeiten, und das auf allen Ebenen.

Nach dieser Geschichte bin ich lange Zeit nicht mehr mit Tosca in den Wald ausgeritten. Nur noch in die benachbarte Baumschule, wo keine größere Straße zu überqueren war. Und mir war für immer und ewig mulmig zumute, wenn ich vom Gelände des Reitstalls ritt. Am liebsten hätte ich mich an meine Stute gekettet oder zumindest eine Schleppleine angebracht, um sie davon abzuhalten, sich vom Acker zu machen, wenn sie mich mal wieder erfolgreich abgeworfen hatte. Das tat sie weiterhin, aber als wir uns erst einmal besser kannten, blieb sie auch immer brav stehen und wartete auf mich. Sie war eben trotz ihrer Eigensinnigkeit eine Gute, eine sehr Gute.

Noch heute könnte ich vor Erleichterung heulen, wenn ich an dieses Erlebnis zurückdenke. Was für ein Glück, dass an diesem Tag so viele Menschen mit Pferdeverstand unterwegs waren, die sich nicht zu gut waren, sofort und ohne großes Überlegen zu helfen. Ich hoffe, sie haben meine Dankbarkeit, auch wenn ich sie in dem Moment nicht in Worte fassen konnte, wahrgenommen. Und ganz, ganz viele Karmapunkte bekommen… und trotz ihrer Verspätung noch ein warmes Mittagessen. Ich hoffe, auch sie haben in ihrem Leben erfahren, wie es ist, in einer scheinbar ausweglosen Lage und bei vollständiger persönlicher Hilflosigkeit Unterstützung zu bekommen. Mir ist das oft passiert, ich hatte viel Hilfe – diese Geschichte ist nur die spektakulärste von allen.

Ich freue mich immer, wenn ich eine Gelegenheit bekomme (und bemerke), in der ich anderen Menschen behilflich sein kann, auf welche Weise auch immer. Es ist mir wichtig, Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und praktische Hilfe weiterzugeben. Egal, ob es sich dabei um ein offenes Ohr, gemeinsames Betrinken, Mitanfassen bei Kinderwagen oder Rollstuhl, finanzielle Unterstützung oder eine Tafel Schokolade handelt. Ich bin gern Teil eines Systems, in dem Menschen sich gegenseitig aufmuntern, trösten, unterstützen und retten. Nicht nur zu Weihnachten, aber irgendwie passt das Thema schon in diese Jahreszeit, finde ich. Insofern ist es vielleicht gar kein  Zufall, dass mir dieser Schwank aus meiner Jugend gerade jetzt wieder eingefallen ist.

3 Kommentare

  1. Hui, was für eine Geschichte! Ich war im gleichen Alter eine ähnlich mittelprächtige Reiterin. Das hätte auch mir passieren können. Aber wie gut, dass sich so viele hilfsbereite Menschen fanden.

  2. Jetzt hatte ich doch glatt vor Rührung etwas Pipi in den Augen…schöner als die Weihnachtsgeschichte. ;o)
    Ich verstehe Dich sehr gut, bin ich doch auch Katzen- und Pferdefan. Ich habe hier im Ort mehrmals ausgerissene Pferde geholfen wieder einzufangen und einmal eine zitternde und heulende Reiterin mit dem Auto eingesammelt und wir sind mit innerlichem Blaulicht ihrem Pferd hinterher. Ich habe leider, als ich 11 Jahre alt war, am Reitverein meiner Ma einmal gesehen wie ein ausgerissenes Pferd vor ein Auto lief, der Fahrer wurde schwer verletzt und das Pferd musste getötet werden…
    Liebe Grüße und Nasenküsse für Katze 1 und 2,
    Jule

    1. Liebe Jule,
      dann hast du ja auch so einiges erlebt. Bitte nimm stellvertretend meinen nachträglichen Dank für die Rettungsaktion, die meiner Geschichte ja sehr ähnlich sieht, entgegen! Das war wirklich eine gute Tat. Zu sehen, dass solche Geschichten auch böse ausgehen können, ist schlimm. In dem Stall, in dem ich war, ist einmal ein Shetlandpony, das seine Reiterin – zum Glück – schon vorher „verloren“ hatte, aus vollem Lauf in ein Auto geknallt. Es ist dann auch etwas später an den Folgen gestorben. Ich war damals etwa 17 und aus irgendeinem Grund die einzige Fast-Erwachsene, die vor Ort war und dann versuchen musste, so schnell wie möglich einen Tierarzt heranzuholen. Eine der ersten Situationen in meinem Leben, in der ich meine Krisenfestigkeit unter Beweis stellen durfte… aber die Sache hat mich dann auch noch lange beschäftigt. Dass du so etwas schon mit elf erleben musstest, tut mir ehrlich leid.
      Pferde sind soooo großartige Tiere, aber man muss sie andauernd beschützen!
      Katze 1 und Katze 2 danken für die Grüße und winken (etwas träge, weil sie gerade gegessen haben).
      Viele Grüße
      Bettina

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