Gibt es eigentlich einen Fachbegriff für die Furcht davor, dass beim nächsten Besuch im Hamburger Landgebiet alle Störche abgereist sind? Falls ja, dann wüsste ich den gerne. Falls nicht, möchte ich bitte einen erfinden.
Denn diese Furcht ist real. Und zwar bei mir. Ich reise ja zweimal pro Woche in die Vier- und Marschlande, mit dem Bus, was nicht unerheblich länger dauert als mit der S-Bahn (und dem Bus), aber nur mit dem Bus komme ich an einem Storchennest vorbei und an mehreren Wiesen und Äckern, auf denen immer mal wieder Störche zu sehen sind. Falls diese noch nicht in ihr Winterquartier in den Süden aufgebrochen sind.
Auf jeder Fahrt, morgens und abends, gucke ich intensiv aus dem Busfenster und halte Ausschau nach weißschwarzen Vögeln mit orangefarbenem Schnabel und ebensolchen Füßen. Orangefarbene Schnäbel und Füße haben nur die erwachsenen Weißstörche, von denen einige in den Vier- und Marschlanden heimisch sind und jedes Jahr wieder in ihre vertrauten Nester einziehen. Die Schnäbel der nun fast ausgewachsenen Jungvögel und Füße sind schwarz, aber das lässt sich momentan nicht überprüfen, denn die Jungvögel sind schon vor ein oder zwei Wochen in den Süden aufgebrochen: Sie waren nun vollkommen flugtauglich und gut genährt, quasi auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit, deswegen sind sie schon mal unterwegs.
Ihre Eltern sind nicht mitgeflogen. Noch nicht. Sie starten auch in den nächsten Tagen, bis dahin aber erholen sie sich von den Anstrengungen der Aufzucht ihrer Brut und gratulieren sich vermutlich täglich selbst, weil sie es geschafft haben, die hungrigen Bratzen nun schon in die Selbständigkeit zu entlasten. Nun können sie endlich alles selbst essen, was sie erbeuten. Und es gibt noch viel zu essen in den Vier- und Marschlanden, weil überall gemäht und geerntet wird und viele kleine Tiere, die den Störchen schmecken, aufgescheucht werden. Und dann schreiten die langbeinigen Vögel langsam und majestätisch durch die Stoppelfelder – um im passenden Moment mit dem orangefarbenen Schnabel blitzschnell zuzufassen. Haps. Und endlich dürfen sie dann auch schlucken und müssen die Beute nicht nach Hause fliegen, wo sich dann der Nachwuchs darum prügelt.
Auf jeder Busfahrt zähle ich, wie viele Störche ich heute wohl sehen kann. An guten Tagen im Sommer sind das so sechs bis acht, manchmal sogar gleichzeitig auf einer Wiese. An anderen Tagen gibt es vielleicht auch sechs bis acht Sichtungen, aber immer nur Einzelstörche bzw. vielleicht immer derselbe Storch, aber an sechs bis acht verschiedenen Orten. Vielleicht zählt er auch die vorbeifahrenden Busse und fragt sich, ob ich wohl drinsitze.
Natürlich gibt es in den Vier- und Marschlanden noch mehr Tiere: Ich sehe vom Bus aus regelmäßig Reiher, Gänse, vier erwachsene Ziegen und seit ein paar Tagen ein Zicklein, Kühe, Pferde, kleinere Raubvögel, Hornissen in der Größe von Rumkugeln, manchmal eine getigerte Katze auf einem Gartentisch und natürlich diverse Möwen und Tauben. Ich freue mich über jedes Tier, aber am wichtigsten sind mir die Störche.
Warum das so ist? Keine Ahnung. Vielleicht weil es in der Hamburger Innenstadt niemals Störche zu sehen gibt, nicht mal in der Nähe von Kreißsälen, und weil ich auch als Kind im Westen der Stadt niemals einen erblicken konnte. Störche waren immer etwas ganz Besonderes, seltene und exotische Erscheinungen.
Wenn die Störche kommen, dann kommt auch der Frühling. Wenn sie wieder gehen bzw. nach Afrika fliegen, dann geht der Sommer. Solange sie da sind, besteht noch Hoffnung. Hoffnung auf weitere Sommertage mit langen, milden Abenden.
Störche werden nicht besonders zahm, aber sie arrangieren sich mit den Menschen, leben in friedlicher Koexistenz mit ihnen, ohne dabei ihre Unabhängigkeit aufzugeben oder sichtbare Kompromisse zu machen. Sie fürchten sich nicht besonders vor uns, haben aber auch kein gesteigertes Interesse, uns näher kennenzulernen. Wenn wir ihnen zu dicht auf den Leib rücken, dann stiefeln sie majestätisch davon. Und manchmal kacken sie uns auf den Kopf.
Jede Busfahrt zum Hospiz am Deich, bei der ich mindestens einen Storch sehe, macht mich glücklich. Eine Busfahrt ohne Storchsichtung hingegen versetzt mich in eine seltsame Stimmung: Sind sie jetzt etwa alle abgeflogen? Alle? Auf dem Weg nach Afrika? Ohne sich zu verabschieden? Werden sie im nächsten Jahr wiederkommen, heil und gesund? Und mit denselben Partner*innen? Störche leben oft viele Jahre in derselben Partnerschaft, was aber wohl vor allem daran liegt, dass sie ihrem Nest treu sind und weniger an einer monogamen Veranlagung.
Viele Menschen sind fasziniert von Störchen. Deswegen gibt es Storchen-Webcams, auch in den Vier- und Marschlanden, mit denen man die großen Vögel beobachten kann. Und manche der Vierländer Störche tragen kleine Sender, die ihnen der NaBu angehängt hat, um ihr Reiseverhalten zu erforschen.
Ganz so wissenschaftlich gehe ich die Sache nicht an. Ich möchte einfach nur Störche sehen. Und das kann jetzt, Ende August, jederzeit vorbei sein für dieses Jahr. Am Donnerstag waren „meine Störche“ noch da – am Dienstag, wenn ich das nächste Mal komme, sind sie vielleicht schon unterwegs. Ist ja auch in Ordnung, sage ich mir, die Störche wissen schon, wann sie los müssen – aber dann sehe ich sie ja bis zum nächsten Frühjahr nicht! Davor fürchte ich mich ein bisschen, ob es dafür jetzt einen Fachbegriff gibt oder nicht.
Guten Morgen.
Einen Fachbegriff kann ich leider nicht beisteuern, wohl aber die Beobachtung hier in der Wesermarsch, dass offenbar gar nicht mehr alle Störche den Winter in Afrika verbringen. Eigentlich kann man hier das ganze Jahr über Störche sichten, was mich auch nicht ganz verwundert, denn in den nun schon 23 Jahren, die ich das Land nahe der Nordsee meine Heimat nenne, habe ich vielleicht 2mal wirklich mehrere Tage hintereinander Schnee gesehen.
Bestimmt sind das die Störche, die nur bis zu mir fliegen.
Wir haben zwischenzeitlich 12 Störche allein in unserem kleinen Dorf und die überwintern sogar. Ganz tapfere Kerlchen.
Wenn Deine Sehnsucht zu groß wird, schicke ich Dir ein Foto von unseren Störchen.
In meinem Städtchen leben im Sommer (Eltern und Jungtiere) etwa 100 Störche. Die Jungtiere ziehen alle noch Richtung Frankreich/Spanien, die alten bleiben meist den ganzen Winter. Wenn es hier auf der Alb mal länger sehr kalt werden sollte, fliegen sie zu einem Kurzurlaub an den Bodensee.
Trotzdem freue ich mich jedes Frühjahr wenn ich sehe, dass sukzessive alle Nester wieder belegt werden und auf ihr Geklapper. Wir haben auch das Glück, dass die Stadt alles tut um die Population zu vergrößern.