Die Erinnerungen aufschreiben. Bevor sie verblassen.

Nun ist es schon fast fünf Monate her, dass mein Vater gestorben ist. Neulich waren wir, also meine Mutter, mein Freund und ich, noch einmal in „unserem“ Hospiz. Das Team dort hatte uns zu einer Art Nachbesprechung eingeladen, schon im November letzten Jahres, aber durch die ganzen Weihnachts- und Jahreswechselterminlichkeiten gab es dann erst Ende Januar die Möglichkeit, diesen Termin wirklich zu planen.

Das war eigentlich ganz gut, denn die Ereignisse rund um den Tod meines Vaters sind nun ein bisschen gesackt und die meisten der anstrengenden Dinge, die zu erledigen waren, haben wir endlich abgehakt. Das heißt, inzwischen spüren wir, vor allem natürlich meine Mutter, gelegentlich auch mal Momente der reinen Trauer und des Vermissens, ohne dass uns gleichzeitig irgendein Druck im Nacken säße, der uns davon abhielte, diese Gefühle auch mal „auszukosten“ und nicht schnell zur Seite zu schieben, weil ja noch so viel Kram zu erledigen ist.

Das Auskosten kriegen wir ganz gut hin, denke ich. Vor allem im Leben meiner Mutter hat sich ja vieles geändert; sie ist jetzt alleine in dem Haus, in dem wir zunächst als vierköpfige Familie lebten und in dem sie die letzten zwanzig Jahre in trauter Rentner-Zweisamkeit mit meinem Vater gewohnt hat. Das ist – von praktischen Dingen wie unberechenbaren Außenjalousien, durchknallenden Glühbirnen und Superkräfte erfordernden Flaschenverschlüssen mal ganz abgesehen – natürlich sehr ungewohnt und manchmal auch ein bisschen traurig. Trotzdem sagt sie, dass sie an den meisten Tagen froh ist, nach Hause zu kommen, die Tür hinter sich schließen zu können und ihre Ruhe zu haben. Das halte ich für ein sehr gutes Zeichen. Der Friedhof ist zu Fuß nur fünf Minuten entfernt, so dass sie fast jeden Tag auf ihrem Spaziergang dort vorbeikommt. Auf dem Friedhof gibt es Bäume und Himmel – so wie auf dem Kinderspielplatz, zu dem sie meinen Vater in seinen letzten Lebenswochen vom Hospiz aus fast jeden Tag im Rollstuhl geschoben hat. Beim Blick über die Bäume in den Himmel fühlt sie sich ihm sehr oft sehr verbunden, sagt sie, und ich finde das ziemlich schön.

In meinem Leben hat sich nicht so viel verändert, zumindest nicht im sichtbaren Bereich. Ich wohne mit meinen Katzen in meiner Wohnung und verbringe den größten Teil des Tages im Büro. Das war auch schon vorher so. Ich weiß bloß nicht mehr, ob ich vorher auch schon so müde und lahmarschig war. Vermutlich nicht. Aber mir fehlt halt der Jahresurlaub 2015, den ich mehr oder weniger komplett auf der Palliativstation und im Hospiz verbracht habe, insofern wundere ich mich nicht. Das war gut eingesetzte Zeit, die für meine seelische und geistige Gesundheit sehr viel gebracht hat, auch wenn mir die für den Sommer eigentlich vorgesehene Erholung weitgehend versagt bleiben musste. Dafür hatte ich die Gelegenheit und die Zeit, meine Beziehung zu meinem Vater noch mit ihm zusammen ein bisschen aufzuarbeiten und mich dann von ihm zu verabschieden. Dafür bin ich sehr dankbar und die Trauer, die natürlich auch in mir lebt, ist ein etwas, das ich gut annehmen kann.

Zurück zu dem, was ich eigentlich erzählen wollte: Wir waren also neulich im Hospiz, trafen dort verschiedene Mitarbeiter des Teams, tranken einen Kaffee miteinander und erzählten uns Geschichten von meinem Vater und auch, wie es uns seit unserem letzten Tag dort ergangen ist. Das war sehr nett, etwas wehmütig, ein bisschen lustig… und auch recht… äh… voneinander abweichend! Dass meine Mutter zeitliche Abläufe durcheinander bringt und Menschen und Orte in der Erinnerung vermischt, wunderte mich weniger – sie ist immer absolut klar und großartig, wenn es wirklich drauf ankommt, aber für Nebenschauplätze fehlen ihr schon seit langer Zeit Geduld und Konzentration. Aber auch mein Freund, der eigentlich klar strukturiert ist, ein gutes Gedächtnis hat und sich auch vernünftig ausdrücken kann, erinnert manche Dinge offenbar ganz anders als sie sich tatsächlich zugetragen haben als ich.

Natürlich habe im Zweifelsfall immer ich recht. Na gut, fast immer. Aber mein Erinnerungsvermögen funktioniert nun mal unabhängig von fast allen anderen Körperfunktionen und sonstigen Abläufen im Vorder- und Hintergrund meines Bewusstseins. Was nicht bedeutet, dass ich eine besonders gute Beobachterin oder Zeugin wäre. Meine Wahrnehmung ist ganz sicher sehr selektiv. Aber die Dinge, die ich wahrnehme, lege ich in meinem Hirn recht ordentlich ab, meistens, nachdem ich sie zur späteren Verwendung quasi schon einmal formuliert habe. Oft mit dem Begleitgedanken „falls ich darüber mal schreiben will“.

Schreiben will ich ja immer gerne. Und vielleicht ist das jetzt so ein Moment, in dem ich das auch tatsächlich endlich tun sollte. Also, die ganze Geschichte mit meinem Vater hier relativ ausführlich erzählen. Bevor meine Erinnerungen irgendwann doch verblassen oder von anderen Ereignissen überlagert werden. Weil ich sie mir bewahren möchte und auch ein bisschen teilen mit anderen Menschen. Schließlich liegt eine intensive und bereichernde Zeit hinter mir und wenn ich davon ein bisschen was vermitteln kann, dann wäre das schon ziemlich schön.

Natürlich schreibe ich auch weiterhin über meine wundervollen Katzen. Ohne sie wäre das hier alles schließlich gar nicht möglich. Und auch über meinen dicken Hintern und meine unordentliche Bude. Auch sie gehören zu mir. Ob ich über die Sache mit der versehentlich abrasierten Augenbraue schreiben möchte, weiß ich allerdings noch nicht. Aber über meinen Vater und den Abschied von ihm möchte ich auf jeden Fall schreiben. Wenn Sie im Gegenzug darüber lesen mögen, dann freue ich mich sehr.

 

 

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