Als ich im Februar dieses Jahres die Nachricht von der Pflegekasse meiner Mutter erhielt, man werde unseren Antrag an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen weiterleiten, welcher uns dann einen Gutachter schicken würde, war ich nicht wenig überrascht. Ich konnte mich nämlich nicht daran erinnern, einen entsprechenden Antrag gestellt zu haben. Allerdings hatte ich – meine Mutter hatte ja endlich einen Platz in dem von ihr ausgewählten Seniorenheim bekommen und ich hatte versucht, ihre Pflegekasse darüber zu informieren – sehr viele Antragsformulare zugeschickt bekommen, die in meinen Augen alle nicht für unsere Anliegen – erst ein Probewohnen, das als Kurzzeitpflege abgerechnet werden sollte, dann die feste stationäre Aufnahme – geeignet waren.
Einige dieser Antragsformulare hatte ich nach kurzer Begutachtung weggeworfen, anderen zum Teil ausgefüllt und dann weggeworfen und ein oder zwei in den „Später noch mal Überprüfen“-Ordner gelegt. Dann hatte ich mir auf der Website der Krankenkasse die tatsächlich notwendigen Formulare runtergeladen, diese ausgefüllt und zurückgeschickt. Dachte ich zumindest. Ganz offenbar aber hatte ich vielleicht doch irgendein Vielzweckformular an die Kasse geschickt, in dem ich, weil ich sonst eigentlich gar nichts hätte ankreuzen können, da es auf die Situation meiner Mutter nicht anwendbar war, irgendwo ein wahlloses Kreuz gemacht hatte… und nach Auffassung der Pflegekasse hatte ich damit eine erneute Begutachtung meiner Mutter durch einen Gutachter des MDK mit dem Ziel, einen höheren Pflegegrad zu bekommen, beantragt.
„Oh“, sagte ich am Telefon, leicht verlegen, „das war gar nicht meine Absicht. Meine Mutter ist mit ihrem Pflegegrad 2 eigentlich angemessen eingestuft, denke ich. Können Sie das Kreuz bitte einfach ignorieren bzw. ich meinen Antrag, falls nötig, auch offiziell zurückziehen?“
„Nein“, sagte die freundliche Mitarbeiterin, „das geht leider nicht. Wenn der Antrag einmal gestellt ist, dann muss eine Begutachtung stattfinden. Da kann ich leider gar nichts machen.“
„Ach“, sagte ich, „auch wenn ich Ihnen sage beziehungsweise schriftlich gebe, dass ich das Kreuz auf dem Formular versehentlich gemacht habe und dass eine erneute Begutachtung gar nicht nötig ist?“
„Nein“, sagte die Mitarbeiterin, „das geht leider nicht.“
Ich trank einen Schnaps und ärgerte mich ein bisschen über mich selbst. Warum musste ich nur dieses dämliche Kreuz auf dem Formular machen? Eine weitere MDK-Begutachtung würde meine Mutter nur wieder total durcheinander bringen – aber eben vermutlich doch nicht genügend Punkte für einen höheren Pflegegrad. Und ich würde ihr zur Vorbereitung ganz sicher nicht noch einmal die Uhr erklären. Dann trank ich noch einen Schnaps und dachte: Was soll’s? Ich bin von dem ganzen Hin und Her mit meiner Mutter und wegen meiner Mutter so durcheinander; es ist ein Wunder, dass ich nicht noch viel mehr Mist baue. Dann kommt eben noch ein Gutachter – na und?
Nach Eingang eines Antrags muss der MDK innerhalb von fünf Wochen einen Termin für die Begutachtung ansetzen. Der Brief kam nach fünf Wochen minus einem Tag… und informierte mich darüber, dass der Gutachter kommen wollte… in die Wohnung meiner Mutter!
Ich konnte mich nicht wirklich an das Kreuz auf dem Formular erinnern, aber sehr gut daran, dass ich dort die neue Adresse meiner Mutter, nämlich das Seniorenheim, angegeben hatte. Weil dieser Umzug ja schließlich irgendwie der Grund meiner Antragstellung war.
Ich rief also beim MDK an, natürlich in Schleswig-Holstein, wo meine Mutter ja ihre Wohnung hatte, und erklärte die Problematik. Nämlich, dass meine Mutter – mittlerweile auch fest und nicht mehr probewohnenderweise – im Seniorenheim sei, und zwar in Hamburg, das ja bekanntlich nicht in Schleswig-Holstein liegt.
„Ach“, sagte die freundliche Mitarbeiterin, „da hat bei der Pflegekasse wohl jemand nicht aufgepasst. Na ja, ich leite den Antrag weiter an den MDK in Hamburg, der sich dann mit einem neuen Termin bei Ihnen melden wird.“
Nach diesem Telefonat passierte dann erstmal einige Wochen lang gar nichts. Ich hatte auch keine Lust, bei der Pflegekasse anzurufen und jemanden zu beschimpfen. Ich trank einfach einen weiteren Schnaps. Stündlich. Ich hatte auch so genug zu tun und meine Mutter, die sich nur schwer mit ihrer neuen Situation anfreunden konnte, beanspruchte nach wie vor einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit.
Auch im Heim merkten die Mitarbeiter schnell, dass meine Mutter sehr viel Aufmerksamkeit brauchte und es dauerte gar nicht lange, bis Vermutungen geäußert wurden, dass sie vielleicht doch auch mit einem Pflegegrad 3 richtig bedient sein könnte.
Ach, dachte ich, dann ist es ja sehr vorausschauend von mir, dass ich den schon beantragt habe. Wirklich!
Noch mehrere Wochen (in Worten: weit mehr als fünf) passierte nichts außer Schnapstrinken (bei mir) und Schwierigkeiten beim Einleben (bei meiner Mutter). Dann erreichte mich tatsächlich ein weiterer Brief des MDK, diesmal von der Hamburger Dependance, und tatsächlich wurde ein Besuch im Heim angekündigt. Natürlich an einem Tag, an dem sowohl ich wie auch meine Mutter schon diverse andere, lange im Voraus geplante Termine, im Kalender standen, teilweise sogar dieselben Termine. Ich verschob, delegierte und ignorierte, dass es eine Freude war, um sicherzustellen, dass ich bei der Begutachtung anwesend sein kann.
Der Termin fand nun gestern statt. Der Gutachter kam, begutachtete und ging. Keine besonderen Vorkommnisse. Sein Gutachten schickt der Gutachter mit elektronischer Post an die Pflegekasse – so hat er das meiner Mutter erklärt – und die wiederum wird uns dann über die Ergebnisse in Kenntnis setzen. Falls sie den Brief nicht an die ehemalige Wohnung meiner Mutter adressiert, die dann nicht mehr die Wohnung meiner Mutter sein wird. Bis dahin werde ich einfach Schnaps trinken. Vielleicht rufe ich die Pflegekasse, falls ich in ein paar Wochen noch nichts Schriftliches erhalten habe, mal an und frage nach. Aber auch dafür sollte ich vorher unbedingt Schnaps trinken, glaube ich. Prost.