Gehen Sie mir weg mit Nachrichten.

Unsere Trauergruppen-Treffen enden grundsätzlich mit einem freundlichen Hinweis auf Selbstfürsorge: „Diese Termine sind intensiv und anstrengend. Seien Sie gut zu sich. Nehmen Sie sich für heute Abend nur Stärkendes vor. Nichts Aufwühlendes wie lange Telefonate oder spannende Filme.“ Gut gemeint, aber irgendwie altmodisch, oder? Ich glaube, ich werde den Text ändern oder wenigstens ergänzen: „Für die Tagesschau ist es, wenn Sie jetzt nach Hause kommen, sowieso zu spät, aber auch die Tagesthemen und das Heute-Journal sollten Sie sich ersparen. Und gucken Sie unter gar keinen Umständen ins Internet!“

Das sage ich den Teilnehmer*innen dann. Und mir auch. Mir vielleicht am allermeisten. Ich bin ja nicht in akuter Trauer, aber auch das Moderieren einer Gruppe ist intensiv und fordernd. Anschließend brauche ich definitiv etwas Stärkendes, deswegen bereite ich mir auch schon am Nachmittag ein feines Abendessen vor, das dann gegen 21 Uhr, wenn ich zu Hause bin, weder viel Zeit noch Mühe braucht. Weiterhin habe ich festgestellt, dass ein Telefonat mit meinem Freund trotzdem sein muss (wenn wir nicht einmal am Tag miteinander gesprochen haben, schlafe ich deutlich schlechter) und ein bisschen Fernsehen verkrafte ich auch, gerne was mit Essen oder mit Tieren. Keine Nachrichtensendungen, keine Dokus.

Mit dem Internet aber bin ich an solchen Abenden auch sehr sparsam. Vielleicht noch ganz kurz bei Twitter reinschauen, aber nicht auf Links klicken. Und auf gar keinen Fall die Tagesschau-App öffnen! Auf gar keinen Fall!

Das ist reine Selbstfürsorge. Und Vernunft. Leicht fällt mir das nicht, denn ich bin ein Nachrichtenjunkie. Aber ich weiß, dass nach langen Tagen und intensiven Abenden meine „Abwehr“ geschwächt ist und ich die synapsenflutenden Bilder, Schlagzeilen und Inhalte nicht so filtern, in Beziehung setzen und auch mal abprallen lassen kann wie sonst. Wenn ich Pech habe, begleiten sie mich in die Nacht und durch meine Träume. Falls ich denn überhaupt schlafen kann. In solchen Nächten geht es rund: Die vierte Welle schwappt auf mich zu, es ist keine dritte Impfung in Sicht, in Kabul stapeln sich die Verzweifelten am Flughafen, irgendwo brennen wieder die Wälder und zwei Autostunden weiter steht alles unter Wasser, in Hamburg sind nur 19 Geflüchtete angekommen, die Umfragewerte von Herrn Scholz sind gestiegen (allein das wäre ja ein Grund, nie wieder zu schlafen!), beim EM-Finale haben sich Tausende mit Corona infiziert, die Taliban geben sich aufgeschlossen, die Briefwahlunterlagen können angefordert werden (her damit, lasst mich wählen, damit ich darüber nicht mehr nachdenken muss!), in Kabul werden Babys an Soldaten übergeben, damit diese sie in Sicherheit bringen, die Taliban bekommen wahrscheinlich demnächst den Friedens-Nobelpreis (gut, das habe ich mir ausgedacht), in meiner Nachbarschaft gab es vorgestern eine Schießerei, die verf*ckte Bahn streikt schon wieder, die Erde wird wärmer und wärmer, nur hier in der Wohnung ist es kalt (im August ist es mal wieder zu kalt für diese Jahreszeit). Und RING schon klingelt der Wecker und ein neuer Tag mit neuen Nachrichten beginnt.

Früher habe ich mich immer darauf gefreut, morgens mit einem Kaffee und den Katzen auf dem Sofa zu sitzen und die ersten Nachrichten des Tages zu lesen, bei Twitter reinzuschauen und so langsam ein Gefühl für den Tag zu bekommen. Heute habe ich meist das Gefühl vom Vortag noch nicht verdaut, geschweige denn abgeschüttelt, wenn schon wieder alles von vorne losgeht.

Und trotzdem: Ein Tagesbeginn ohne Nachrichten fühlt sich auch irgendwie falsch an. Ohne Twitter erst recht. Wie soll ich denn so in den Tag starten?

Na gut. Also gibt es morgens Nachrichten. Im Allgemeinen habe ich dann auch genug Zeit und noch das Nervenkostüm dafür. Dann aber erst wieder am Abend, okay? Und das auch nur, wenn ich mich nicht zu vulnerabel fühle. Streng verboten: Aus reiner Langeweile eine Nachrichten-App öffnen. Für solche Momente gibt es doch Solitär oder Candy Crush. Was Herr Laschet (zu sexy möchte ich mich in dem Zusammenhang nicht äußern, aber solide? Laschet?) nun wieder für Peinlichkeiten abgesondert hat, wie viele Ortskräfte nebst Familien noch in fast hoffnungsloser Situation ausharren müssen und wo es jetzt gerade wieder starkregnet, das erfahre ich auch später oder morgen noch früh genug.

Falls in meiner Nachbarschaft allerdings wieder geschossen wird, sagen Sie mir gerne Bescheid. Dann mache ich das Fenster zu.

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