Als ich in meine Wohnung eingezogen bin, damals, vor vielen Jahren, da sah diese Straße noch ziemlich anders aus. In etwas mehr als 20 Jahren sind nämlich fast alle Ladengeschäfte, Restaurants und kleinen Handwerksbetriebe, die damals hier ansässig waren, umgezogen und durch andere Ladengeschäfte, Restaurants und kleine Handwerksbetriebe ersetzt worden. Oder durch Agenturen aller Art und Büros.
Halbwegs unverändert übriggeblieben sind, soweit ich weiß, nur der Kiosk und der Bäcker an der Ecke (der, obwohl er jetzt einer anderen Kette gehört als vorher, noch so aussieht wie früher und auch dasselbe Sortiment an Backwaren anbietet) sowie die Autowerkstatt gegenüber.
Weggezogen oder aufgegeben worden sind unter anderem der Weinladen, der Klempnerbetrieb, zwei Galerien, drei oder vier Antiquitätenläden, die Schlosserei im Hinterhof, der Second-Hand-Laden, das portugiesische Restaurant, das italienische Restaurant, der iranische Delikatessenladen, ein Schuhmacher, ein deutsches Restaurant, eine Kneipe, zwei oder drei Einrichtungsläden, ein Schreibwarenladen, zwei Frisiersalons, eine chinesische Massagepraxis.
Im Moment wird das öffentliche Leben auf der Straße bestimmt durch ein sehr gutes Frühstückscafé, einen weiteren Coffeeshop, den Bäcker an der Ecke und den Kiosk, einen Einrichtungsladen (ja, noch einen), einen Schuhmacher (ja, noch einer) und natürlich die Autowerkstatt. Die noch da ist, aber wohl spätestens im nächsten Frühjahr ausziehen wird. Nicht weil sie will, sondern weil sie muss. Weil nämlich die Fläche im Hinterhof, die durch diese Werkstatt genutzt wird, zu der berühmten Tempelruine gehört, die dort seit Jahrzehnten relativ unbeachtet vor sich hinrottete und dem ganzen Gebäudeensemble etwas historisch-bedeutsamen Charme verlieh, die nun aber wieder neu und auch berechtigterweise wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt ist.
Die Tempelruine ist nämlich nicht irgendeine Tempelruine, sondern die Ruine des Israelitischen Tempels Hamburg, einer der ersten reformierten, modernen Synagogen der Welt. Seine moderne architektonische Ausformung kann durchaus als bauliche Widerspiegelung der religiösen Reformen verstanden werden. Er gilt somit als wichtiges architektur- und religions-geschichtliches Baudenkmal. Erhalten sind leider nur noch zwei Teile des Tempels von 1844, der Eingangsbereich (Tor mit Säulenresten und Aufgang zu Galerien und Garderoben) und auf der anderen, hinteren Seite die Apsis, in der der Thoraschrein untergebracht war. Diese ist leider in einem ziemlich schlechten Zustand, obwohl sie in den letzten Jahren immerhin eine Stützmauer im Rücken und ein schützendes Dach erhielt.
Übrigens wurde der Tempel nicht im Zusammenhang mit den Novemberpogromen von 1938 zur Ruine. Er war nur bis 1931 als Synagoge in Betrieb und wurde dann zugunsten des neuen und größeren Tempels in der Oberstraße im Stadtteil Harvestehude aufgegeben, in den in den vorhergehenden Jahren ein Großteil der Hamburger Juden umgezogen war und wo sich das jüdische Leben der Stadt nun konzentrierte. Ab 1932 wurde der Bau in der Poolstraße als Möbellager für die Gemeinde benutzt. 1937 wurde er unter dem zunehmenden Druck der nationalsozialistischen Politik verkauft, wie so viele Immobilien in dieser Zeit weit unter Wert. Im Jahr 1944 wurde der profanierte Tempel dann von einer Kriegsbombe getroffen und bis auf die beiden erhaltenen Teile zerstört.
Im Dezember 2020 kaufte die Stadt Hamburg im Zuge der Wiedersichtbarmachung jüdischen Lebens in Hamburg nun das Hinterhofgrundstück mit der Tempelruine, nachdem die vorherigen Besitzer nach längerem Hin und Her kein Interesse daran hatten, einen Erinnerungsort daraus zu machen, und die Gebäude einfach verfallen ließen. Das Konzept zur weiteren Nutzung des liegt der Öffentlichkeit noch nicht vor, aber es wurde schon angedeutet, dass die Stadt die Fläche nicht nur zur Schaffung eines jüdischen Kulturdenkmals, sondern auch zum Bau von günstig gelegenen und bestimmt gut (aber nicht günstig) vermietbaren Wohnungen nutzen möchte. „Verdichtung“ nennt man das wohl und angesichts der bereits jetzt herrschenden Enge in der Straße ist das eigentlich genau das, was wir hier nicht brauchen.
Wie die zweigeteilte Nutzung wohl funktionieren soll, das fragt man sich ohnehin. Die Reste des Tempels und die später eingebauten Bauteile wie z. B. die Autowerkstatt, die auch schon über 50 Jahre hier ansässig und komplett in der Nachbarschaft verwurzelt ist, und die anderen Gewerke/Werkstätten im Hof lassen sich bestimmt den verschiedenen Gestaltungsphasen des Hinterhofensembles zuordnen… ob sie sich aber voneinander trennen lassen? Und wie will man dazwischen, daneben, darüber noch Wohnungen bauen?
Man darf gespannt sein. Und besorgt. Der Poolstraßen-Tempel bzw. seine Ruine wäre nicht der erste sogenannte Erinnerungsort, den die Stadt Hamburg lange und gründlich plant und dann doch vergurkt. Verschiedene Initiativen und Gruppierungen (siehe Linkliste) bemühen sich gerade sehr um die öffentliche Aufmerksamkeit und ich hoffe inständig, dass sie sich bei der Planung und Einrichtung des Erinnerungsortes genügend Gehör verschaffen können.
Während der Öffnungszeiten der Autowerkstatt (solange diese noch da ist) ist der Hinterhof mit dem Tempel übrigens offen zugänglich. Die Mischung aus historisch bedeutsamem Ort und pragmatischer Nutzung im Hier und Jetzt ist ausgesprochen reizvoll. Nur falls Sie mal vorbeikommen sollten… Vor den beiden Cafés gegenüber kann man auch sehr gut ein Getränk zu sich nehmen und versuchen, sich vorzustellen, wie es in der Poolstraße im 19. und 20. Jahrhundert wohl so ausgesehen und zugegangen sein mag.
Weiterführende Links
Initiative Tempel Poolstraße
Geschichte, Aktuelles, Links, Verein TempelForum e. V.
https://hamburg-tempel-poolstrasse.de/
Denkmalverein Hamburg
Informationen, Fotos, Links
https://www.denkmalverein.de/gefaehrdet/gefaehrdet/vergessener-tempel
Denkmal digital
Die Publikation „Der Israelitische Tempel in Hamburg“ erschien als Band Nr. 7 der Reihe „Archiv aus Stein“ in gemeinsamer Herausgeberschaft von Stiftung Denkmalpflege Hamburg und dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. ISBN 978-3-936406-63-4.
Drei Videos zur Geschichte des Tempels von der Präsentation der Publikation
https://denkmaltag-hamburg.de/israelitischer-tempel-poolstr/
Drei Minuten Denkmal: Tempel Poolstraße
Prof. Dr. Miriam Rürup, Historikerin, über die Geschichte des Tempels:
https://vimeo.com/449002628