Kein Tag wie jeder andere. Meine erste Impfung.

Mein Wecker klingelt um halb neun, d. h. natürlich macht er kein Klingelgeräusch, sondern er spielt Cello für mich. Sanft und eigentlich ist halb neun ja auch eine sehr humane Zeit zum Aufstehen. Sehr viel besser als um halb acht, was ja auch nicht wirklich früh ist, mir aber in den letzten vierundzwanzigeinhalb Jahren vor der Kündigung meines Jobs immer zu früh war.

Normalerweise komme ich um halb neun ganz gut hoch, aber heute bin ich müde. Gestern war ein anstrengender Tag im Hospiz und ich war erst gegen neun Uhr abends zu Hause. In Corona-Zeiten, wo ich normalerweise den ganzen Tag über zu Hause bin und notwendige Erledigungen eher auf den späten Vormittag und den frühen Nachmittag lege, kommt mir das echt spät vor. So wie früher, wenn man sich nach einer Opernvorstellung noch verquatscht hat oder was trinken war, um kurz vor Mitternacht zu Hause zu sein. Man ist erschöpft, aber aufgekratzt und fragt sich, ob das jetzt wirklich ein guter Zeitpunkt zum Nudelnkochen ist. Tut es dann aber auf jeden Fall und ungeachtet jeder Vernunft.

Heute Morgen koche ich keine Nudeln, sondern springe aus dem Bett und schleppe mich zügig unter die Dusche. Bei dem kurzen, aber dringend notwendigen Umweg über die Küche, wo meine beiden hungrigen Mitbewohnerinnen mit anklagenden Blicken und Gesten auf ihre leeren Näpfe aufmerksam machen, fällt mein Blick auf den Balkon und ich fast in Ohnmacht. Es hat geschneit. Draußen liegt Schnee!

Während mir die Tränen des Entsetzens in die Augen steigen, wanke ich unter die Dusche. Es schneit. Verdammte Hacke. Dabei hatte die Wetter-App erst für den heutigen Nachmittag wieder Schneefall angekündigt und ich hatte mich in relativer Sicherheit gewähnt. Und nun liegt wieder eine dicke Schneeschicht auf allen Gehwegen und Kreuzungen. Wer weiß, ob Busse und Bahnen noch fahren?

Ich muss meinen ganzen Plan überarbeiten. Das Hamburger Corona-Impfzentrum, wo ich heute Morgen meinen ersten Impftermin habe, liegt nur ungefähr einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Bei Schnee und Minusgraden werde ich den Weg aber nicht zu Fuß machen, sondern auf öffentliche Verkehrsmittel – so sie denn in Betrieb sind – umsteigen. Das muss ich gleich überprüfen. Aber erstmal duschen, sonst kann ich ohnehin keinen klaren Gedanken fassen.

Etwas später sitze ich sauber und verstört mit Kaffee und Smartphone auf dem Sofa. Es ist kurz nach neun. Mein Termin im Impfzentrum ist um viertel nach zehn. In der Terminbestätigung steht nichts davon, dass man früher da sein muss, aber natürlich möchte ich unter allen Umständen überpünktlich dort aufschlagen. Wie also stelle ich es an mit möglichst wenig Fußweg durch möglicherweise nicht geräumte Zonen?

Ich entscheide mich für eine – unter normalen Umständen – völlig idiotische Kombination von Bus und U-Bahn, die keinerlei Zeit spart, mich dafür aber auf die richtige Seite des Hamburger Messezentrums bringt. Außerdem hoffe ich, dass der Fußweg vom Bahnhof zum Eingang der Messehalle 3 geräumt ist.

Weil draußen Schnee liegt, ziehe ich wieder die wintertauglichen Stiefeletten an. Die haben halbwegs rutschfeste Sohlen und eine hübsche Optik, jedoch auch den entscheidenden Nachteil, dass sie mir zu eng sind. Schon letzte Woche, als in Hamburg der erste Schnee fiel, habe ich mir damit eine Blase am letzten Fuß gelaufen. Und nun muss ich sie wieder anziehen, juhu. Ein paar Pflaster über der halb verheilten Blase machen den Fußraum im Schuh auch nicht größer, aber was soll’s?

Habe ich alle Unterlagen? Die Bestätigung beider Impftermine (wer nicht schon den Termin für die zweite Impfung im richtigen Abstand vorweisen kann, bekommt unter Umständen auch keine erste Impfung), die Bestätigung meines Ehrenamt-Arbeitgebers, dass ich aufgrund meiner Tätigkeit in die Gruppe mit höchster Priorität beim Impfen gehöre, den Impfpass, den Personalausweis und die Krankenversicherungskarte. Dazu noch ein halbes Pfund FFP2-Masken und los geht es.

Draußen ist es ekelhaft kalt, aber zum Glück nicht besonders glatt. Ohne besondere Zwischenfälle erreiche ich die Bushaltestelle und der Bus kommt auch zur angekündigten Zeit.

Hurra. Ich bin unterwegs. Ich werde geimpft. Ich schwitze wie ein Ferkel unter meiner warmen Mütze und meine Brille beschlägt noch schneller als sonst. Zum Glück kenne ich mich hier auf der Ecke aus und der Bus hält direkt vorm Eingang zur U-Bahn-Haltestelle St. Pauli, so dass ich mich nicht verlaufen kann.

An der Sternschanze steige ich wieder aus. Wie gesagt, nach drei Stationen Bus und zwei Stationen U-Bahn bin ich nun ungefähr tausend Meter von meiner Wohnung entfernt. Der Fußweg zum Impfzentrum ist ausgeschildert und so einigermaßen schneefrei.

Es schneit übrigens noch oder wieder. Trotzdem möchten die ersten Security-Mitarbeiter schon vor dem Betreten der Messehalle 3 meine Terminbestätigung sehen. Hoffentlich verwischt auf dem Ausdruck nicht die Tinte, denke ich.

Dann bin ich drinnen. Der ältere Herr, der sich vor mir auf die abgekordelte Bahn Richtung Hallenmitte begibt, wird aufgefordert, wegen der gleich anstehenden Temperaturmessung seine Mütze abzunehmen. Ich nehme meine Mütze auch ab und versuche, meine Haare in Form zu schütteln, ohne gleich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet zu werden. Mir ist warm. Sehr warm. Unter meinem Mundschutz rinnt mir der Schweiß in den Mund und auch meine Stirn ist feucht. Hoffentlich versteht die Temperaturmessung das nicht falsch, denke ich.

Ich bin aufgeregt. Sehr aufgeregt.

Als nächstes geht es zur Taschenkontrolle. Sehr höflich, sehr freundlich, und ich habe nichts dabei, was darauf hindeutet, dass ich gleich unter Androhung von Gewalt einige Hundert Impfdosen mitgehen lassen werde. Also darf ich weiter, immer durch die abgekordelten Serpentinen.

Es ist gar nicht so wenig Betrieb hier heute Morgen. Im Fernsehen wurden ja mehrfach Bilder aus dem Hamburger Impfzentrum gezeigt, wo die Dichte der menschlichen Besiedelung geringer schien als in Nordwestmecklenburg, aber heute sind hier durchaus viele Menschen (merke: in Halle drei ist die korrekte Bezeichnung „Impflinge“) unterwegs. Keine Menschenmassen, aber doch so viele, dass sie organisiert werden müssen. Ein freundlicher Koordinator schickt mich in die Sektion 1c. Vor mir ist noch immer der ältere Herr, mehr Schlange gibt es nicht. Zu 1c gehören etwa sechs Schalter, an denen die Unterlagen der Impflinge geprüft werden, ich kann sofort an den Schalter 5 vorrücken.

Eine freundliche junge Frau sieht sich meinen Ausweis und die Bestätigung des Hospizes an. Gründlich. Schaut mich an. Wieder die Bestätigung. Noch einmal mich. Kommt zu dem Schluss, dass ich noch nicht über achtzig bin. Richtig, das steht ja auch im Ausweis. Ich schwitze.

„Hospiz?“, fragt sie dann. „Das ist so gemischt, oder?“

Ich habe es ja geahnt. Sie wollen mich nicht impfen. Oder sie impfen mich, aber nicht mit dem guten Stoff, für den ich gebucht bin, sondern mit dem, der heißt wie ein Hamburger Bier, das ich nicht mag. Aber wahrscheinlich impfen sie mich gar nicht, weil Hospiz? Ehrenamtlich? Und Sie wollen höchste Priorität haben?

„Gemischt?“, frage ich zurück. „Gemischte Sterbende, ja.“

Vielleicht kam das etwas weniger verbindlich aus meinem Mund, als ich wollte. Die Frau hat ja ganz höflich und freundlich gefragt. Aber ich bin nervös. Und ich schwitze. Gucken die ganzen Ü-80er von den anderen Schaltern nicht schon? „Man liest ja so viel über Leute, die sich Impfungen erschleichen, Hilde, und stell dir vor: So eine Person habe ich auch gesehen!“

Die junge Frau bittet mich um einen Moment Geduld und entschwindet mit meiner Bestätigung.

Ich mag mich gar nicht umgucken nach verstohlen grinsenden SeniorInnen rundum. Ich konnte es ja auch nicht glauben, dass ich schon geimpft werden kann, will ich laut schreien, aber es stimmt: Im Hospiz verbringen extrem vulnerable Menschen, die zumindest im Moment fast alle noch nicht geimpft sind (das immerhin wird sich in den nächsten Monaten ja nach und nach ändern) und auch keine Gelegenheit mehr dazu bekommen werden, ihre letzte Lebenszeit. Wir, die wir sie dabei pflegen, betreuen und begleiten, wir haben höchste Priorität. Ja, ausdrücklich auch die Ehrenamtlichen. Und das ist auch gut und richtig so und wenn…

„Danke für Ihre Geduld“, sagt die freundliche junge Frau, die jetzt wieder am Platz ist, und händigt mir meine Unterlagen wieder aus. „Hier ist Ihr neunseitiger Laufzettel. Den nehmen Sie jetzt bitte mit und knicken Sie ihn bitte nicht, unser Scanner ist zickig. Sie müssen vorerst nur die ersten vier Seiten lesen und noch nichts ausfüllen, das macht die Ärztin mit Ihnen. Sie dürfen dann durch die Tür rechts gehen.“

Hastig, bevor sie es sich anders überlegt, nehme ich meine Dokumente und den neunseitigen Ausdruck, passiere die Tür auf der rechten Seite des Schalters und finde mich in einem Wartebereich vor einer weiteren Front nummerierter Türen wieder. Eine freundliche Mitarbeiterin platziert mich in einer Ecke. Um mich herum sitzen andere Impflinge, viele in Begleitung, fast alle Angehörige der Ü-80-Gruppe. Sie beobachten einander misstrauisch und mir wird auch schnell klar, wieso: Hier wird man nicht mit Namen aufgerufen, sondern mit „Der Nächste bitte!“, man muss die Lage also im Blick behalten, damit sich nicht jemand vordrängelt, der erst später gekommen ist. Ich mag solche Hackereien nicht und will nicht in Streitigkeiten verwickelt werden, also bemühe ich mich um Unsichtbarkeit.

Trotzdem gelingt es mir nach einigen Minuten, in eine freie Kabine vorzudringen. Eine weitere freundliche junge Frau, die sich als Ärztin vorstellt, geht mit mir den Fragebogen durch und bittet mich dann, meinen Arm freizumachen.

Der große Moment ist gekommen. Ich werde gegen Corona geimpft. Mit dem guten Stoff.

Die Ärztin spritzt sehr gefühlvoll, kaum merke ich den Einstich. „Ich arbeite in der Onkologie“, erzählt sie mir auf mein Lob hin fröhlich, „da spritze und steche ich den ganzen Tag lang.“ Und: „Es ist ganz schön, auch mal mit gesunden Menschen zu tun zu haben.“

Nachdem ich meinen Ärmel wieder runtergerollt habe, darf ich die Behandlungskabine durch die Hintertür verlassen und gelange in den Ruheraum. 15 Minuten unter Beobachtung sind Vorschrift; man darf davon ausgehen, dass sich gravierende bzw. behandlungsbedürftige Impfreaktionen bis dahin bemerkbar machen. Was dann später eventuell noch auftritt, sind Nebenwirkungen, mehr oder weniger unangenehm, aber voraussichtlich keine medizinischen Notfälle.

Mir geht es gut. Schließlich bin ich geimpft und sehr froh darüber. Nach einer Viertelstunde sammele ich meine Sachen zusammen, melde mich bei einer freundlichen Dame ab und werde an den Auscheck-Schalter geschickt. Dort bekomme ich eine gestempelte Erstimpfungs-Bescheinigung, mein restlicher Laufzettel wird gescannt und es wird noch einmal überprüft, ob ich einen zweiten Termin gemacht habe. Mein Impfausweis und die Krankenversicherungskarte werden noch nicht benötigt. Dann bin ich entlassen.

Knapp eine Dreiviertelstunde nach dem Betreten des Impfzentrums stehe ich wieder draußen. Es schneit noch immer. Ich schaue auf den Fußweg in der Lagerstraße, Richtung Karolinenstraße, also gen Heimat. Sieht ganz gut aus, also werde ich jetzt den direkten Weg wählen und nicht mehr U-Bahn fahren. Nur noch schnell beim Bäcker vorbei für Brötchen. Hurra, ich bin geimpft. Wegen des großen Erfolges wiederholen wir die Prozedur in drei Wochen noch einmal. Aber schon heute fühle ich mich viel besser geschützt gegen das Virus.

2 Kommentare

  1. Hach, ich freu mich so für Sie! Un dich warte sehnsüchtig, bis die Ü65jährigen in Österreich geimpft werden In der Zwischenzeit ist es mir egal, womit. Es zählt, dass!!!!

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