Vielleicht ahnten Sie bereits dunkel, dass ich einige der angeblich verlorenen Jahre meiner Jugend in der Obhut von Katzen in einer Siedlung aus Pappkartons verbracht habe. Das war eine wunderbare und prägende Phase für mich, die ich keinesfalls missen möchte. Im Gegenteil, die Zeit, in der ich einem weggeworfenen Karton wohnte, in dem vorher ein Kühlschrank gewesen war, zählt zu den glücklichsten Perioden meines bisherigen Lebens.
Von Katzen erzogen und sozialisiert. Auch viele Jahre später, in denen ich – natürlich mit Katzen – in Menschenhäusern lebte und Pappkartons zwar nicht missachtete, aber dennoch auch nicht mehr wirklich liebte und brauchte, sind mir viele kätzische Grundsätze und Lebensweisheiten noch immer so präsent wie z. B. das Grundgesetz, die Bibel und die frühen Werke von Jane Austen.
Ich liebe und verehre Katzen, vor allem natürlich meine Katzen. Und ich beneide sie. Um ihre Fähigkeit, jederzeit und überall einschlafen zu können. Um ihr Durchsetzungsvermögen. Um ihr perfektes Make-up – kein Lidstrich dieser Welt hält so perfekt. Darum, sich von gruseligen Zeiterscheinungen wie Donald Trump, der AfD, dem generischen Maskulinum, der Frage, ob die Sommerzeit nun eine gute Sache ist oder nicht (‟Wir liegen in der Sonne. Sobald sie scheint. Und nun geh mir aus derselben!”), nicht den Tag verderben zu lassen oder um die nicht anstehende Entscheidung, auf eine Seebrückendemo zu gehen, obwohl man sich auf Demos immer fürchtet.
Vor allem aber beneide ich Katze 1 und Katze 2 aber – vor allem im Moment mal wieder – darum, dass sie keine Zähne im Mund haben. Gut, sie mümmeln beim Essen ein bisschen und beim ‟Abbeißen” von Katzengras sehen sie geradezu bescheuert aus, aber dafür bekommen sie garantiert keine Zahnschmerzen. Kein bisschen. Nie wieder.
Bis vor etwa fünfzehn Jahren hatte ich ständig Zahnschmerzen. Meine Zähne waren schon früh ziemlich kaputt, nicht nur mit gelegentlichen Löchern, sondern richtig tief mit entzündeten Wurzeln und vereiterten Abzessen. Was natürlich daran lag, dass ich als Kind und Jugendliche erstens meine Zähne nicht besonders gut gepflegt habe und zweitens so schreckliche Angst vor Zahnbehandlungen aller Art hatte, dass ich die Zahnarzttermine, die meine Eltern für mich machten, entweder verpasste oder mit fest geschlossenem Mund wahrnahm. So kam es, dass ich jahrelang nur dann zahnärztlich versorgt werden konnte, wenn die Schmerzen so schlimm waren, dass sogar ich froh und dankbar war, wenn sich ein Zahnarzt meiner annahm (und ja, ich hatte schon in frühen Teenagerzeiten so schlimme Beschwerden). Zur Kontrolle oder auch nur zur Behandlung kleinerer Beschwerden ging ich einfach nicht.
Die Zahnärzte meiner Jugend erinnere ich durchweg als arrogante, oberlehrerhafte und übergriffige Arschlöcher, die meine ungenügende Zahnpflege kritisierten, mir mit schlimmeren und schlimmsten Folgen in späteren Jahren drohten, mich keinesfalls darüber im Unklaren ließen, dass ich mir all diese Beschwerden selbst eingebrockt habe, und bestenfalls – wenn sie nicht nur gönnerhaft, sondern auch chauvinistisch waren – meine Mutter von oben herab bedauerten, weil mit sie so einer ungezogenen, unvernünftigen und unbelehrbaren Tochter geschlagen sei.
Das Wort ‟Angstpatientin” war damals noch nicht erfunden, fürchte ich, und ebensowenig ein Ansatz zu einem besseren Umgang mit unangepassten Minderjährigen.
Irgendwann, mit Anfang oder Mitte Zwanzig, wendete sich endlich das Blatt. Ich suchte mir selbst einen neuen Zahnarzt, einen Berufsanfänger aus meiner eigenen Generation, der gerade seine erste eigene Praxis aufbaute, Freundlichkeit und Ausgeglichenheit als wesentliche Charaktereigenschaften mitbrachte, seine Patienten nahm wie sie kamen und vor allem nicht der Meinung war, eine erfolgreiche Zahnbehandlung müsse weh tun. Im Gegenteil, er versuchte, seine Behandlungen möglichst schmerzfrei zu gestalten, und bot seinen Patienten, wenn es ungemütlich wurde, von sich aus eine lokale Betäubung an.
Ich merkte, dass ich gar nicht so besonders schmerzempfindlich war. Allein das Wissen darum, dass ich nur die Hand zu heben brauchte, um eine schmerzhafte Aktion zu unterbrechen, genügte mir. Schon bald hatte ich genug Vertrauen in meinen Zahnarzt, um ihn einfach machen zu lassen – ich wusste, dass er es für mich nicht ‟aus pädagogischen Gründen” ungemütlicher machen würde als notwendig.
Natürlich hatte ich noch immer schlechte Zähne und die notwendigen Behandlungen waren durchaus unangenehm. Nicht immer war sofort klar, welcher meiner Backenzähne die Schuld an den aktuellen Beschwerden trug: Sie alle waren hässlich, kaputt und verdächtig. Manchmal dauerte es mehrere Tage und Zahnarztbesuche, bis wir die akute Entzündung, die mir das Leben vor allem nachts zur Hölle machte, isoliert hatten. Ich beglückte meinen Zahnarzt sowie – an Mittwochnachmittagen, Wochenenden und in der Nacht – verschiedene Notdienst-Zahnärzte sowie die damals noch existente eine nächtliche zahnmedizinische Notaufnahme in der Hamburger Uniklinik. Manchmal mehrmals im Lauf von vierundzwanzig Stunden.
Ich schluckte (verschriebene) Antibiotika, um einen entzündeten Zahn wieder behandelbar zu machen, und so viele Schmerzmittel, wie man allein zu Hause überhaupt nehmen darf. Nicht immer halfen diese Medikamente und selbst wenn, dann nicht immer so lange, bis die nächste Dosis erlaubt war. Ich war tagelang wach und so neben der Spur, dass mir im Grunde alles egal war: Alles in mir fieberte auf den Moment hin, in dem ich endlich wieder in einem Behandlungsstuhl Platz nehmen und hoffen konnte, dass der Zahnarzt meines Vertrauens die Sache schon richten werde.
Dass die Kariesbehandlungen, Wurzelkanalsanierungen und die gelegentlichen Extraktionen auch ganz schön schmerzhaft sein konnten, egal ob mit oder ohne Betäubung, war mir mittlerweile egal. Sie machten mir keine Angst mehr, auch wenn es gelegentlich vorkam, dass ich zwischendurch vor Erschöpfung heulte. Normalerweise hörten die Schmerzen auf, sobald der Zahnarzt seine Hände und das schwere Gerät aus meinem Mund nahm. Falls nicht, blieben manchmal Wundschmerzen, die aber im Vergleich zu den Schmerzen vor der Behandlung eher Kindergartenniveau hatten und bald abklangen. Und falls nicht, dann saß ich eben am nächsten Morgen schon wieder vor der Praxis, kurz bevor die Sprechstunde begann.
Als ich ungefähr vierzig war, hatten wir dann den wunderbaren Zustand erreicht, dass alle meine Zähne entweder saniert oder entfernt worden waren, und es begann eine außerordentlich glückliche Zeit von ungefähr zehn Jahren, in denen in meinem Mund alles in Ordnung war und nichts Beschwerden machte. Ein kleines Wunder.
Ein Wunder, das natürlich nicht ewig dauern konnte. Vor ungefähr fünf Jahren habe ich den Zahnarzt gewechselt – inzwischen hatte ich nämlich bemerkt, dass die modernen Zahnärzte von heute alle tausendmal besser und umgänglicher sind als die Fieslinge meiner Jugend. Die entzückende junge Zahnärztin allerdings, zu der ich in den letzten Jahren ging, ist allerdings weitergezogen und außerhalb meiner Reichweite. Seitdem war ich unschlüssig, ob ich trotzdem in der Praxis bleiben oder noch einmal wechseln sollte, vielleicht wieder etwas weiter in die Stadt und von zu Hause oder dem Büro aus schneller zu erreichen.
Mitten in diesen Überlegungen schlug dann einer meiner noch vorhandenen Backenzähne, der unten rechts mit der uralten riesigen Zementfüllung, zu: Von jetzt auf gleich befielen mich übelste Zahnschmerzen von der Sorte, die auf eine fette Entzündung unter einer intakten Oberfläche hindeuteten. Nichts Neues für mich, auch nach fünfzehn schmerzfreien Jahren erinnern mein Hirn, mein Nervensystem und ich uns noch ohne Probleme. Natürlich in der Nacht zum Mittwoch, was heißt, dass die Chancen, am selben Tag einen Zahnarzttermin zu bekommen, nicht sehr gut sind, denn am Mittwoch gehen alle Hamburger Ärzte und Zahnärzte schon mittags in den Feierabend.
Alle? Wirklich alle? Hm. Ich rief bei meinem Zahnarzt an, erreichte nur eine Mailbox und erfuhr, dass er nicht nur am Mittwochnachmittag, sondern überhaupt den ganzen Mittwoch über nicht da war. Na toll. Den Gedanken, mich mit nicht wirkenden Schmerzmitteln über den Tag zu retten und abends zum Zahnärztlichen Notdienst zu gehen, fand ich nicht wirklich ansprechend. Ich überlegte. Und überlegte. Bis mir plötzlich einfiel, dass ich vor Jahren mal an einem Samstag in einer Zahnarztpraxis in der Mönckebergstraße gewesen war, die damals gerade Notdienst hatte, aber auch sonst sehr umfassende Öffnungszeiten anbot. Ein Blick auf die Website bestätigte: Hier gibt es offenbar einen Zahnarzt, der nicht Golf spielt. Jedenfalls nicht am Mittwochnachmittag. Ich rief in der Praxis an und bekam, obwohl ich dort keine reguläre Patientin bin, sofort einen Termin bzw. die Aufforderung, einfach sofort zu kommen.
Gesagt, getan und was soll ich Ihnen sagen? Ich glaube, ich habe einen neuen Stammzahnarzt gefunden. Ein entspannter, zugewandter und leichthändiger Zahnarzt kümmerte sich bereits fünf Minuten nach meinem Eintreffen um mich, untersuchte mich kurz, ordnete eine sehr sinnvolle Röntgenaufnahme an und bohrte anschließend ohne große Verzögerung den kranken Zahn auf. Zunächst in der Hoffnung, der Zahn sei schon tot, dann – als ich das erste Mal vor Schmerz unter der Zimmerdecke klebte – mit der Betäubungsspritze in der dritten Hand, um den Nerv und das entzündete Gewebe behandeln zu können.
‟AAAAUUUAAAA!”
‟Tut mir leid. Wenn die Wurzel sehr entzündet ist, wirkt die Betäubung nicht so gut…”
‟Iff weiff…”
Es tat schweineweh. Ich bin wirklich nicht zimperlich, aber ich habe tatsächlich – instinktiv und rückenmarksgesteuert, versteht sich – mehrmals versucht, dem Zahnarzt und seinem Bohrer sowie den ekligen Geräten, mit denen er dann in meinen Wurzelkanälen aufräumte, zu entkommen. Indem ich zum Beispiel versuchte, meinen Kopf irgendwo in oder hinter der links von mir stehenden Assistentin zu verstecken. Oder indem ich probierte, unter dem Utensilientablett durchzutauchen und vom Stuhl zu springen… Hat alles nicht geklappt, der Doc war echt hartnäckig und ließ sich nicht abschütteln. Das fand ich durchaus heldenhaft.
Nachdem die Wurzeln so gut wie möglich durchgeputzt waren, wurde der Zahn mit einem entzündungshemmenden Medikament gefüllt und provisorisch verschlossen. In zwei Wochen habe ich nun einen Termin für eine weitergehende Kanalsanierung und hoffe, dass dieser eine Termin genügen wird. Nicht dass ich Angst davor hätte, nein, aber wirklich darauf freuen kann ich mich natürlich auch nicht. Der Termin wird sicher anstrengend, für alle Beteiligten. Aber hilft ja nichts, jedenfalls nicht, wenn ich den Zahn behalten möchte. Womit wir wieder da wären, wo wir angefangen haben: Ich beneide meine Katzen. Um ihre wunderhübschen Pfoten mit den rosa und schwarzen Ballen, um ihre kleinen Strandkorbhöhlen auf der Schlafzimmerfensterbank und darum, dass sie nie wieder zum Zahnarzt müssen. Außer wenn er sie zum Golfspielen einlädt, natürlich.