Liebe Bettina von vor zehn Jahren!

Gestern morgen im Zug nach Bremen las ich auf Twitter plötzlich den Hashtag #DearMeTenYearsAgo – User schrieben kurze Nachrichten an sich selbst, aber eben das Selbst von vor zehn Jahren: Trost, Ratschläge, Ermahnungen und ganz viel Bestätigung war da zu lesen. Schön, dachte ich, und: Witzig. Witzig, denn ich bin erst vor wenigen Tagen, bei dem Interview für die Frauenzeitschrift, das ich am Montag gab, gefragt worden: Wenn Sie Ihrem jüngeren Ich eine Nachricht schreiben könnten, Was wäre das? Natürlich hatte ich eine Message für mein jüngeres Ich, allerdings für ein bedeutend jüngeres Ich.
Und die Bettina von vor zehn Jahren? Was würde ich ihr heute sagen wollen? Ich überlegte kurz, rechnete und mir wurde klar: Die Nachricht passt nicht in einen Tweet. Die Nachricht an mich selbst im Frühjahr 2009 braucht einen Blogpost. Hier kommt sie:

Liebe Bettina im Frühjahr 2009,

du bist aufgewühlt, unglücklich und verzweifelt, und das aus gutem Grund. Der Mann, den du für deine große Liebe hältst und der dich seit Jahren gleichzeitig sehr glücklich und auch sehr unglücklich macht, ist unheilbar krank. Bis zur Diagnose vor wenigen Tagen hat es quälend lange gedauert, doch nun ist klar: Er wird, wenn nicht irgendwas anderes dazwischen kommt, an diesem Prostatakrebs sterben. Und du kannst im Augenblick nicht zu ihm, nicht mit ihm sprechen, nicht mal telefonieren, weil die andere Frau bei ihm ist.

Er wird tatsächlich an diesem Krebs sterben. Allerdings erst in zweieinhalb Jahren. Allein. Weder du noch die andere Frau noch eine seiner beiden Töchter oder der gute Freund, der ihn die ganze Zeit über begleitet hat, werden bei ihm sein. Ob er das wirklich so gewollt hat, wirst du nie erfahren. Du wirst den Verdacht hegen, dass er einen der wenigen ruhigen Momente, die er im Krankenhaus hatte, genutzt hat, weil er das Gerede und Gezanke der drei Zicken nicht mehr aushalten mochte. Du bist seit diesem Zeitpunkt schon seit Wochen aus der Nummer raus, weil du weder ihm noch dir noch den Stress heimlicher Treffen zumuten wolltest. Einen wirklichen Abschied hattest du nicht. Das letzte Telefonat, kurz bevor er ins Krankenhaus musste, hat er nach wenigen Minuten beendet, weil seine Schmerzen zu stark waren. Das letzte, was er zu dir gesagt haben wird: „Das ist nicht der Abschied. Wir sehen uns noch.“

Wenn ich dir, so von Bettina zu Bettina, einen Rat geben darf: Sei klug. Du wolltest nie die zweite Frau sein. Noch viel weniger aber willst du die zweite Witwe werden. Er braucht dich jetzt als Freundin, nicht mehr als Geliebte. Sei tapfer, lüg ihn nicht an und halte mit ihm aus. Fordere nicht so viel, das tun schon die anderen. Du brauchst einen guten Abschied von dem Mann, der dir beigebracht hat, dass Sex zu zweit tatsächlich funktionieren kann.

Jetzt bist du noch in Schockstarre, aber die wird sich lösen. Die Bestrahlungen und die Hormontherapie werden ihm helfen und er wird noch einmal eine gute Zeit haben. Ihr werdet noch gute Zeiten haben. Nutze sie und kläre die Dinge. Überlass es nicht dem Zufall, wie du aus der Nummer rauskommst. Und wenn es ihm dann irgendwann schlechter und schlechter geht, dann versuch, den Mut aufzubringen, ihn zu fragen, ob er die Therapie wirklich bis zum bitteren Ende durchziehen möchte. Ob es das ist, was er will. Ob er weiter behandelt und operiert und bestrahlt und ich weiß nicht was noch alles werden will. Um dann an dem Tag, an dem er von der Onkologie in die Rehastation verlegt wird, zu sterben. Einfach so. Weil er genug von der ganzen Quälerei hat.

Du weißt im Jahr 2009 noch nicht, dass es zu diesem Krankenhauskrampf Alternativen gäbe. Aber er weiß es. Er hat vor gar nicht so langer Zeit einen ehemaligen Schulfreund im Hospiz besucht und dir anschließend sehr beeindruckt davon erzählt. Er konnte sich das auch für sich sehr gut vorstellen. Aber man wird ihn nicht lassen, sie werden ihn nicht lassen, und er wird es hinnehmen. So wie er auch viel zu viele Schmerzen durch die verdammten Knochenmetastasen hingenommen haben wird bis zu seinem Tod. Weil er kein Aufhebens um sich machen will und niemanden in Sorge versetzen.

Wenn du nichts ändern und ihm nicht helfen kannst, dann musst du das akzeptieren. Er hat sich zwischen dir und der anderen Frau entschieden. Für die andere. Sein Pech. Denn er wird alleine sterben und du wirst weiterleben. Weiterleben und einen neuen Freund finden. Einen, der richtig und gut für dich ist und der nicht mit mehreren Frauen rumjongliert. Bis dahin dauert es zwar noch ein bisschen, aber du wirst in der Zwischenzeit mit ganz schön vielen Männern ein bisschen von dem nachholen, was du in jungen Jahren versäumt hast. Dieses Internet, ich sage es dir. Das kann was. So wie du deine Katzen im Internet gefunden hast, wirst du auch den richtigen Mann im Internet finden. Du musst dir und ihm nur die Chance geben.

Apropos, die Katzen! Hör auf, dir Sorgen um sie zu machen. Sie sind jetzt gesund und werden das auch noch lange Zeit bleiben. Sie sind großartig und du kannst und wirst jeden Tag mit ihnen genießen.

Lass dich nicht von deiner Angst auffressen. Der Tod wird dir in den nächsten Jahren noch häufiger begegnen… und nicht nur aus der Ferne winken. Wink zurück oder noch besser: Geh ihm ein paar Schritte entgegen und versuch, ihm in die Augen zu schauen. Dann verliert er ein bisschen von dem Schrecken, den er jetzt noch für dich hat.

Bleib optimistisch. Du hast schon einiges geschafft und wirst auch noch viel mehr schaffen. Halt aus und halt durch. Es lohnt sich.

Ach ja: Lächle, wenn du fotografiert wirst. Du bist wunderschön. (Das wirst du in zehn Jahren einer Journalistin sagen, die dich fragt, was du deinem jüngeren Ich mitteilen würdest, wenn du könntest.)

Es grüßt dich
Bettina im Frühjahr 2019

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