Mein Ehrenamt: Von der Theorie zur Praxis

„Hallo Bettina“, höre ich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung sagen, „störe ich dich gerade?“

Der Zug, der mich am Sonntagabend von Bremen zurück nach Hause gebracht hat, ist gerade im Hamburger Hauptbahnhof zum Stehen gekommen und ich klemme irgendwo im Gang zwischen einer Frau mit zwei Rollkoffern und einer eingeschüchterten Bulldogge fest, während von hinten der Druck der zur Tür drängenden Aussteigewilligen mit jeder Sekunde wächst. Keine Situation, in der ich mich normalerweise ums Telefonieren gerissen hätte – aber auf dem Display meines Smartphones habe ich gesehen, wer mich anruft: M., eine der beiden Leiterinnen meines Ehrenamt-Einführungskurses, meine wichtigste Bezugsperson im Hospiz.

„Gar nicht“, höre ich mich sagen. „Ich muss nur kurz aus dem Zug aussteigen.“

Während ich über die Bulldogge klettere, weiteren Rollkoffern ausweiche und versuche, nicht versehentlich mein Telefon fallen zu lassen oder weitere lose Knöpfe meiner auseinanderfallenden Winterjacke zu verlieren, plaudern wir kurz über den Sonntagabend und das Leben an sich. Dann habe ich mich endlich aus dem Bahnhof gewuselt und der Lärm um mich nimmt ein bisschen ab. An der Bushaltestelle, wo ich wie immer den Bus knapp verpasst habe, ist es fast still.

„So“, sage ich. „Nun können wir in Ruhe sprechen.“

Es gelingt mir, das relativ ruhig zu sagen, dabei bin ich im höchsten Maße entzückt und aufgeregt über diesen Anruf, der eigentlich nur eins bedeuten kann: Im Hospiz gibt es einen Gast, der Lust auf den Besuch einer völlig unerfahrenen Ehrenamtlichen hat, und aus irgendeinem Grund bin ich M. in diesem Zusammenhang eingefallen. Wenn das kein Grund für freudige Erregung ist, dann weiß ich auch nicht.

Der Einführungskurs fürs Ehrenamt, den ich im November begonnen habe, geht diese Woche zu Ende. Die sechzehn Teilnehmer (ja, alle sind dabei geblieben) sind jetzt bereit für ihre ersten, natürlich noch immer sehr engmaschig supervidierten Einsätze im wirklichen Leben und Sterben, so wie es im Hospiz halt stattfindet. Jeder von uns hat eine Kaffee-und-Kuchen-Hospitation gemacht und die Kursteilnehmer, die sich für eine Mitarbeit in der Küche oder am Empfang interessieren, haben in diesen Arbeitsbereichen auch bereits erste Eindrücke gewonnen. Die meisten von uns aber wollen „in die Begleitung“, also einzelne Hospizgäste für die Dauer ihres Aufenthalts (will sagen: in den allermeisten Fällen bis zum Tod des Gastes) mehr oder weniger regelmäßig, so wie es gewünscht wird, besuchen.

Ich möchte auch begleiten, natürlich. Wer mich mal in der Küche beim Rühreimachen gesehen hat, weiß, warum z. B. Abendbrotdienst für mich keine Option ist. Naja, und außerdem glaube ich eben, dass ich im Begleiten ein bis vor nicht allzu langer Zeit in schlummerndes Talent in mir freigelegt habe. Das soll sich jetzt entwickeln dürfen. Voller Empathie, aber auch ein bisschen neidisch, habe ich in den letzten vier Wochen verfolgt, wie einige meiner Kurskollegen ihre ersten Gäste schon vor Abschluss des Kurses besuchen durften. Einige dieser Gäste sind sogar im Laufe der letzten drei, vier Wochen gestorben, so dass diese ersten Begleitungen schon wieder abgeschlossen sind und an unseren Kursabenden Kerzen für sie angezündet werden konnten.

Ich möchte jetzt auch loslegen, einen Gast zugeteilt bekommen und herausfinden, ob ich „das“ wirklich kann. Und will. Egal, ob es in meinem Leben ansonsten zurzeit, beruflich ebenso wie privat, drunter und drüber geht. Das schränkt zwar meine Flexibilität ein bisschen ein, aber gerade wegen der vielen Dinge, die ich ständig tun muss, habe ich das dringende Bedürfnis, zwischendurch auch mal etwas zu machen, was ich machen möchte. Und das ist im Moment: Am Bett eines schwerkranken/sterbenden Menschen sitzen und das Gefühl haben, damit einen Unterschied zu machen. Für meinen Gast ebenso wie für mich.

„Schön“, sagt M., „wie sieht es aus bei dir? Hast du Zeit und Lust, einen Gast zu besuchen?“

„Wenn du einen Gast hast, von dem du glaubst, dass er gerne von mir besucht werden möchte, dann unbedingt“, erwidere ich. „Um wen geht es denn?“

„Es geht um einen älteren Herrn“, erzählt M., „aber die Details erzähle ich dir lieber persönlich. Wann hast du Zeit für einen Erstkontakt? Vielleicht am Dienstag vor unserer Gruppe?“

Hm, denke ich, eigentlich hätte ich ja gerne noch mehr Informationen. Aber okay, ich stehe hier an einer Bushaltestelle vor dem Hauptbahnhof. Vielleicht ist das tatsächlich nicht der ideale Ort für eine ausführliche Übergabe. Aber bis Dienstag muss ich noch zweimal schlafen!

Das sage ich natürlich nicht, sondern: „Das stimmt natürlich. Dienstag ist eine gute Idee. Ich könnte um vier im Hospiz sein, wenn dir das passt.“

Und so verabreden wir uns, total erwachsen. Ich hüpfe beschwingt in meinen Bus und freue mich auf Dienstag. Auf meinen ersten Einsatz als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Hospiz. Auf meinen ersten Gast, einen schwerkranken/sterbenden Menschen, an dessen Leben ich Anteil nehmen darf. Einen Gast, dem ich ein paar Stunden meiner Zeit schenke – aber er schenkt mir ja auch einen Teil seiner, möglicherweise sehr begrenzten und dadurch kostbar gewordenen Zeit! Und wenn das hundertmal eigenartig klingt: Ich freue mich drauf.

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