#Muenchen siegt über #Diät. (Nur heute.)

Eigentlich wollte ich diese Woche was übers Abnehmen schreiben, aber angesichts der Ereignisse vom Freitag in München bleiben mir gerade das nach vierzehn Stunden Fasten eigentlich dringende Brötchen und jedes Wort zum Thema im Hals stecken. Zu sehr sind meine Gedanken bei diesem neuerlichen Einbruch von Gewalt und Schrecken in unsere schon lange nicht mehr heile, aber im Allgemeinen noch funktionsfähige Welt.

Ich bin keine Expertin. Weder für terroristische Anschläge oder Amokläufe noch für Hintergründe aller Art. Ich bin eine schlechte Zeitungsleserin und vermeide im Fernsehen Dokumentationen, sogar die mit Tieren. Viele Schlagzeilen erreichen mich über meine oft wesentlich interessiertere Filterblase und nicht immer mache ich mir die Mühe, mir darüber hinaus weitere Informationen zu verschaffen.

Im wirklichen Leben, also draußen auf der Straße, bin ich keine Gafferin. Bei Unfällen, Feuer oder anderen ungewöhnlichen Ereignissen gehe ich weiter, ohne zu glotzen, sobald klar ist, dass ich nicht irgendeiner Weise von Nutzen sein kann. Ich lasse Hilfskräfte ihren Job machen und respektiere die Privatsphäre von Betroffenen. Aus Prinzip.

Bei Katastrophen, über die im Fernsehen berichtet wird, ist das anders. Ich glotze Berichterstattung, solange Bericht erstattet wird. Egal wie oft sich die erstatteten Berichte wiederholen. Und wenn Thomas Roth zum achtzehnten Mal sagt, dass er jetzt noch einmal alle bekannten Fakten zusammenfasst, dann kann ich diese dann im Allgemeinen mitsprechen, aber nicht ab- oder umschalten. Ja, ich gucke ARD, egal ob andere Sender mit ihren Erkenntnissen die Nase vorn haben (wie zum Beispiel letztes Jahr bei den Anschlägen in Paris, als die ARD nicht live von den Ereignissen in der Stadt berichtete, sondern die „Arena“ ihren Sportreportern überließ, als würden diese im nächsten Moment damit beginnen, doch noch das Fußballspiel zu analysieren). Ich bin mit der und durch die Tagesschau sozialisiert worden, da kann ich nicht gegenan. Also glotze ich stundenlang von Brennpunkt zu Tagesthemen-Sonderausgabe und zwischendurch lese ich noch die Push-Nachrichten der Tagesschau-App.

Das Wesentliche: Ich kann mich nicht losreißen. Ich nehme mir vor, lieber einen Film anzusehen, ein Buch zu lesen, Spaghetti zu kochen oder endlich ins Bett zu gehen… und nichts passiert. Ich sitze vor der Glotze, lese nebenbei meine Twitter-Timeline und kann mich nicht vom Geschehen und der medialen Aufbereitung entfernen.

Überhaupt: Twitter. Da gibt es – natürlich grob verallgemeinert – an solchen Abenden vier große Strömungen:

  • Die, die sich darauf besinnen, dass Twitter ein KurzNACHRICHTENdienst ist und sehr energisch Informationen weiterverbreiten, z. B. mit dem sehr tollen Hashtag #offenetuer.
  • Die, die ihre Betroffenheit mit der Welt teilen müssen, weil sie nun einmal nicht anders können. Häufig eingeleitet durch „2016 kann dann auch weg“.
  • Die „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“-Fraktion mit dem Banner „Jetzt erst recht“.
  • (Die Betroffenen und die Singenden treffen bzw. mischen sich manchmal bei der Kampagne „Katzenbilder statt Bilder von Opfern und Polizeieinsätzen“.)
  • Die vierte Gruppe (meistens die größte, denke ich) ist unsichtbar. Das sind die Twitterer, die glauben, dass sie (noch) nichts beitragen können, wollen, sollen oder müssen, und einfach mal die Klappe halten.

Ich gehöre meistens zur vierten Gruppe, auch um der ersten Gruppe nicht die Timeline zu verstopfen. Auch das vielleicht ein Teil meiner Sozialisation: „Bei Katastrophenfällen hält man die Telefonleitung frei für wichtige Gespräche!“ Außerdem habe ich auch nicht immer sofort eine Meinung (außer „Oh nein, wie schrecklich!“ – und auch das haben andere schon besser und schneller als ich geschrieben). Selbst wenn mehr Fakten und Hintergründe bekannt sind als am Freitagabend, brauche ich Zeit, um eine eigene Meinung zu entwickeln – und etwas anderes würde ich sowieso nicht schreiben wollen, weder bei Twitter noch sonstwo. Schließlich bin ich kein Journalist, sondern eine Privatperson.

Gestern am frühen Morgen wurde bekannt, dass vorgestern in München wohl doch „nur“ ein Einzeltäter unterwegs war, ein Achtzehnjähriger. Er tötete offenbar neun Menschen und dann sich selbst. Also eine „Amoklage“ im Gegensatz zur zunächst in Betracht gezogenen „Terrorlage“. Es stellt sich die Frage, ob ein spontan gewaltbereiter Verwirrter (eventuell gänzlich ohne ideologischen Hintergrund) weniger Angst auslöst als ein strategisch eingesetzter IS-Kämpfer, der bis zu seinem Einsatz unentdeckt und unauffällig in unserer Nähe lebte. Vor beiden können wir uns nicht in letzter Konsequenz schützen, egal wie sehr wir unser Umfeld auf Verhaltensauffälligkeiten hin betrachten und gegebenenfalls auch reagieren. Und selbst wenn wir uns zu Hause einschließen und nicht mehr rausgehen, könnte der Pizzabote statt einer Pizza Quattro Stagioni auch eine Maschinenpistole mitbringen.

Außerdem können, wollen und sollen wir uns ja auch gar nicht zu Hause verstecken. Unser Leben, das wir schützen wollen, soll ja es ja auch wert sein. Dazu gehört für die meisten von uns, vor die Tür gehen zu können und wohin wir eben sonst noch wollen. Ausgangssperre und Versammlungsverbot, und seien diese hundertmal zu unserem eigenen Schutz verhängt, beeinträchtigen uns in unserer Lebensqualität.

Ich wohne recht zentral in Hamburg, in der Neustadt, einem eigentlich recht bürgerlichen Stadtteil, der aber unmittelbar an die extrem umstrittenen (und hoffentlich bald abgeschafften) „Gefahrengebiete“ der Stadt grenzt. Außerdem liegt die Neustadt quasi auf dem Weg von der Innenstadt in die „Gefahrengebiete“, das heißt, die Anwohner bekommen auch jede eskalierte Demonstration zu spüren, die sich traditionell vom eigentlich Ort der Demo, nämlich der Innenstadt, auf die üblichen Straßenschlachtfelder St. Pauli und Schanzenviertel verlagert. Nicht, dass ich hier jemals eine Demo oder auch nur einen einzelnen Demonstranten gesehen hätte. Für die hätten wir hier auch gar keinen Platz, denn auf dem großen Platz genau vor meiner kleinen Wohnstraße sammeln sich gerne mal ein paar Hundertschaften der Polizei. Auch Wasserwerfer und andere abschreckend wirkende Einsatzfahrzeuge werden gegebenenfalls hier kurzzeitgeparkt. Gelegentlich sperren Polizeiketten mit Schildern und Schlagstöcken unser Wohnviertel ab und ich musste mich schon häufiger ausweisen, um nach Hause zu dürfen. Wie gesagt, ohne jemals einen Demonstranten gesehen zu haben. Es ist schon allein deswegen nicht unbedingt so, dass ich mich durch erhöhte Polizeipräsenz in meinem Umfeld irgendwie sicherer fühlen würde. Eher im Gegenteil.

Insgesamt bin ich vorsichtiger und nachdenklicher geworden. Schon seit dem 11. September 2001. Damals hatte ich tagelang ein schlechtes Gefühl, wann immer ich aus dem Haus musste. Zwei Wochen nach den Anschlägen hatten wir eine Opernpremiere und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie man hin und her überlegte, ob diese Premiere stattfinden sollte, und wie mulmig uns dann schließlich an diesem Tag zumute war. Mehrere Jahre danach bin ich in kein Flugzeug gestiegen und auch heute fliege ich nur, wenn es sein muss, aber nicht mehr zum Vergnügen. Ich folge da nur meinem Bauchgefühl – das muss niemanden überzeugen, ist für mich aber der Maßstab aller Dinge, was die Frage angeht, ob ich etwas tun möchte oder nicht. Nach der Geiselnahme in dem Moskauer Musical-Theater verbrachte ich ganze Opernvorstellungen mit Überlegungen darüber, was ich wohl bei einem solchen Anschlag tun würde.

Trotzdem will ich mein Leben leben. Ich benutze öffentliche Verkehrsmittel, auch nachts. Ich gehe ins Theater, ins Kino, ins Kaufhaus. Ich mag meine Mitmenschen, meistens wenigstens, und gehe ihnen selten aus dem Weg. Ich bilde mir ein, grundsätzlich vernünftig zu sein, eine gute Wahrnehmung und einen gesunden Instinkt zu haben. Wenn mein Bauchgefühl mir sagt, dass ich die Straßenseite wechseln sollte, dann wechsle ich die Straßenseite. Ansonsten hoffe ich einfach, nie zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, nie einem Amokläufer oder einem anderen Gewalttäter, egal mit welcher Ideologie im Gepäck, zu begegnen. Ich hänge an meinem Leben und zu Hause warten zwei sehr hungrige Katzen auf mich.

Es tut mir leid, wenn Sie das Gefühl haben, ich wüsste heute nicht wirklich, worüber ich eigentlich schreibe. Vielleicht hätte ich doch lieber übers Abnehmen berichten sollen, aber was soll’s? Das hat auch noch Zeit bis nächste Woche – und dieser Mist hier musste raus. Nennen Sie es ruhig gequirlte Kacke, das ist völlig in Ordnung. Schließlich ist es meine gequirlte Kacke und das hier ist mein Blog.

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