Musik, die manipulative Sau

Schon seit Jahren höre ich zu Hause kaum noch Musik. Nicht nur keine Opernmusik, sondern auch sonst keine. Weder Radio, noch CDs, noch stundenlange wohlüberlegte Wiedergabelisten. Ich mag einfach Ruhe. Außerdem finde ich, dass es in meiner Wohnung so etwas wie Zimmerlautstärke nicht gibt: Musik ist entweder zu laut oder zu leise, dazwischen gibt es nichts.

Mit Livemusik ist es anders: Normalerweise besuche ich mehrmals pro Woche Opernaufführungen, viele davon sogar freiwillig und gerne. Naja, besuchte. Seit dem Beginn dieser Spielzeit Mitte September war ich genau einmal in der Oper und habe schon diverse unwiederbringliche Aufführungen verpasst. Aber ich bringe es einfach nicht über mich. Zu groß ist meine Angst, der manipulativen Kraft irgendeines großen Komponisten und seiner Musik nicht gewachsen zu sein, mittendrin einen melodramatischen Heulkrampf zu bekommen.

Die Zeiten, in denen ich in der Oper, wenn es denn besonders schön war, lautlos ein dekoratives Tränchen verdrücken konnte, scheinen nämlich vorbei zu sein. Weinen ist bei mir unkontrolliert, lautstark, feucht und unüberseh- und hörbar. Nicht gerade das, was ich mir auf einem Dienstplatz in der Staatsoper, umgeben von freundlichen Kollegen und vollpreiszahlenden Besuchern, unbedingt gönnen möchte.

Wenn ich heule, dann doch lieber zu Hause, ungestört und in Gesellschaft meiner liebenden Katzen. Naja, also in der vermuteten Anwesenheit meiner unsichtbaren Katzen, wenn ich ehrlich bin. Die beiden haben nämlich sehr feine Antennen, spüren sofort, wenn es mir schlecht geht und… verschwinden dann vorsichtshalber von der Bildfläche. Nicht, dass ich ihnen noch den Pelz nassmache!

Und überhaupt: Zu Hause mag ich eigentlich auch nicht weinen. Na gut, bei sentimentalen Filmen mit Heinz Rühmann, der Tagesschau oder wenn ich mal wieder die Flasche mit dem Stärkungsmittel nicht aufkriege. Aber nicht über Dinge, die mich wirklich beschäftigen. Nicht in dem Moment, in dem sie mich beschäftigen. Also weine ich eben lieber nicht.

Stattdessen bricht es eben gelegentlich am falschen Ort und zur falschen Zeit aus mir heraus, gerne im Zusammenhang mit Musik. Chorgesang ist schlecht, Opernmusik ist noch schlechter und am schlechtesten sind Weihnachtslieder. Blöde, kitschige, rührselige Weihnachtslieder, vor allem live gesungen. Am allerschlimmsten: Weihnachtslieder zum Mitsingen! Ich hasse es. Egal, ob ich tatsächlich mitsinge oder nur stumm lausche, egal ob gut oder eher schrecklich gesungen wird: Die Wahrscheinlichkeit, dass mir mittendrin von ganz tief unten ein Schluchzen aufsteigt und unbedingt raus muss, ist groß. Ich habe kein Mittel dagegen und das kann ich nicht gut leiden. Also vermeide ich Weihnachtslieder. Und Chöre. Opernchöre erst recht. Und Oper überhaupt. Eigentlich Musik an sich. Musik, die blöde manipulative Sau.

Und diese Ruhe hier ist ja auch herrlich und erholsam. Schließlich gehöre ich nicht zu diesen armen Menschen, die es mit sich selbst und der Stille um sich herum nicht aushalten. Ich kann so, ohne Musik im Hintergrund, auch meine Nachbarin, die heute Abend offensichtlich einen Kegelabend in ihrer Wohnung veranstaltet, viel besser hören.

Herrlich, diese Stille. Hören Sie sie? Was? Ob ich pfeife? Nein, das ist sicher nur eine der Katzen, die sich sonst im Dunkeln fürchtet. Was sie da pfeift? Möglicherweise ein Weihnachtslied! Entschuldigen Sie bitte, ich muss weg!

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