Noch kein Frühling in Hamburg

Wo kommt denn auf einmal der Schnee her? Hatten wir nicht gesagt, dass wir jetzt bereit für den Frühling sind? Dass wir gerne die ersten Stiefmütterchen auf den Balkon setzen möchten und die Heizung runterdrehen und die dicke Jacke einmotten beziehungsweise das Winterfell abwerfen? Und nun schneit es auf einmal in Hamburg und ist eiskalt? Oder hat die Rückkehr des Winters, der uns in dieser Saison vorher eigentlich noch gar nicht so richtig mit seinen Ekligkeiten bedacht hatte, damit zu tun, dass Hamburg sowieso gerade unter Schock steht wegen des Amoklaufs in Alsterdorf in dieser Woche? Wollen sie – wer auch immer sie sind – uns jetzt unter einer dichten und undurchdringlichen Schneedecke verschwinden lassen, die alle Geräusche dämpft und alles, was unter ihr nicht mehr zusehen ist, auch vor der Kälte schützt… sofern es nicht ohnehin schon erfroren ist?

Die übelste Gewalttat seit langer Zeit, mit der Hamburg sich da gerade konfrontiert sieht, hat die Temperatur in der Stadt ganz sicher um einige Grade sinken lassen. Die Bevölkerung, so sagen sie zumindest im Fernsehen, steht kollektiv unter Schock, auch der Teil, der so klug ist, sich nicht für das Fernsehen interviewen zu lassen. Ich glaube das sofort, mir ist der Schreck auch in die Glieder gefahren und hat meinen Körper noch nicht wieder verlassen. Zwar wohne ich weit entfernt vom Ort des Geschehens, aber das Perfide an dieser Art von Geschehnissen ist ja das Wissen darum, dass sie sich jederzeit und überall abspielen können. Dass wir uns zwar umsichtig und achtsam verhalten, uns aber nicht wirklich davor schützen können, irgendwann doch mal zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Statistisch betrachtet ist das zwar zum Glück überhaupt nicht wahrscheinlich, schon gar nicht im für eine Großstadt doch eher friedlichen Hamburg, aber statistisch betrachtet ist es halt auch nicht wahrscheinlich, im Lotto zu gewinnen, und doch tut es jede Woche jemand.

Wobei ich mehr Angst vor dem Winter draußen habe als davor, in eine Gewalttat verwickelt zu werden. Was vermutlich damit zu tun hat, dass ich mich schon viel häufiger wegen Glätte auf die Schnauze gelegt habe als wegen eines Angriffs mit einer Schusswaffe. Die Erfahrung lehrt mich also, dass Glätte auf dem Fußweg für mich persönlich aller Wahrscheinlichkeit nach eher ein Problem bekommen wird. Wer in seinem Leben schon hundertmal ausgerutscht und hingefallen ist, wird beim nächsten Sturz auf einer vereisten Fläche nicht allzu überrascht sein. Wenigstens habe ich nicht allzu viel Angst, mir beim Fallen etwas zu brechen – schließlich haben meine Knochen bisher auch immer gehalten. Allerdings bin ich, wenn ich genauer darüber nachdenke, nicht sicher, ob die Wahrscheinlichkeit eines Knochenbruchs bei weiteren Stürzen nicht vielleicht größer wird statt kleiner. Hm.

Und was ist mit der statistischen Wahrscheinlichkeit, doch mal von einer Gewalttat direkt betroffen zu sein? Wird die im Laufe des Lebens größer oder kleiner? Und was heißt direkt betroffen? Mehrere Schüsse hören und den Notruf wählen (bei der Polizei gingen direkt nach den ersten Schussgeräuschen 47 Notrufe ein)? Am späten Abend von einer Warnapp aufgeschreckt werden, die sagt, dass ich mich zu Hause einschließen soll? Auf der Straße umgeleitet werden und vielleicht nicht nach Hause gelangen zu können, weil rund um den Ort des Geschehens alles abgesperrt ist? Klar, das ist alles verhältnismäßig harmlos und nicht zu vergleichen damit, selbst in dem Versammlungshaus gewesen zu sein und plötzlich einem wild um sich schießenden Mann gegenüberzustehen. Oder – es handelte sich ja um eine Hybrid-Veranstaltung – zu Hause auf die Videocall-Oberfläche auf dem Laptop zu starren und sich zu fragen, was zum Geier da auf der anderen Seite gerade passiert. Kommt zu diesen Menschen dann auch eine Notfallseelsorgeperson und fragt, wie es so geht? Oder reicht die Betroffenheit dafür nicht aus? Oder die Menge der verfügbaren Notfallseelsorgepersonen?

Ich bin froh, dass die Wahrscheinlichkeit, mich bei Schnee und Eis auf die Schnauze zu legen, weitaus größer ist als die Wahrscheinlichkeit, einem Amokläufer zu begegnen. Zwar bekomme ich beim Anblick glitzernder Eisschichten auf der Straße auch Panikattacken, aber immerhin habe ich die Möglichkeit, für solche Situationen hilfreiche Strategien zu entwickeln. Zum Beispiel das Haus nicht zu verlassen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Oder, wenn ich das Haus verlassen muss, die schweren Schuhe mit der Profilsohle zu tragen. Ein bisschen hilft das Zuhausebleiben vielleicht auch dagegen, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, klar, aber andererseits wissen wir ja auch alle, dass ein gewisses Restrisiko immer bleibt. Mit dem müssen wir uns irgendwie arrangieren. Das Leben ist nun einmal lebensgefährlich. Die ersten Stiefmütterchen auf dem Balkon helfen mir immer ein bisschen, das auszuhalten, aber das muss jetzt wohl noch ein paar Tage warten. Länger hoffentlich nicht, denn ich brauche jetzt den Frühling in Hamburg – und zwar bald!

 

1 Kommentar

  1. Ich kann dir da so einiges nachfühlen. Bin so froh, dass hier der Winter vorbei ist – vorhin sah ich, dass der Pfirsichbaum schon rosa Knospen hat. Ein wenig voreilig, fürchte ich, für Dienstag ist schwerer Regen und ein Temperatursturz vorhergesagt. Hoffentlich kostet uns das nicht sämtliche Blüten – dieser Baum ist neben den Zitronen der einzige im Garten, der wirklich schon etwas trägt.
    Aber ich schweife ab. Je älter ich werde, desto mehr achte auch ich darauf, wie ich mich bewege – keine Lust, mir zum ersten Mal im Leben irgendwelche Knochen zu brechen. Meine Großmutter hatte das in meinem Alter erstklassig drauf – sehe sie noch mit einem Bein und einem Arm im Gips.
    Davon ab – zur falschen Zeit am falschen Ort, ja, das geht ganz schnell. Eine meiner übelsten Erinnerungen ist es, auf dem Heimweg vom Büro plötzlich vor Absperrband zu stehen und nicht nach Hause zu können – und meinen Mann zwanzig Minuten nicht ans Telefon zu kriegen, der Geier weiß, warum. Er sollte vor mir heimkommen. War er auch, zum Glück nicht so früh wie sonst, andernfalls wäre er direkt in die verdammte Bombe hineingelaufen. Köln, 2004.
    Irgendwann durfte ich über Scherben nach Hause gehen … zu viele Scherben, glaubt mir.

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