Telefonat mit Jette

„Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Antoine de Saint-Exupery

 

Die Unsitte, einen Blogpost mit einem berühmten Zitat einzuleiten. Hat sie nun auch mich erreicht? Und wenn ja, wieso?

Vorhin klingelte das Telefon, im Display sah ich die Nummer des großen freundlichen Mannes. Merkwürdig, dachte ich, der wollte doch laufen gehen, das dauert bei ihm immer eine Weile. Nahm das Gespräch aber trotzdem an.

„Hier ist Jette“, sagte eine fröhliche Stimme am anderen Ende der Leitung, „und ich möchte mal was klarstellen. Kannst du das dann bitte ins Internet schreiben?“

„Natürlich“, erwiderte ich. „Mit dem größten Vergnügen. Du kommst gerade rechtzeitig für den dieswöchigen Blogpost.“

„Freut mich, wenn ich behilflich sein kann“, sagte Jette. „Es ist eine Nachricht in folgender Sache: Ich bin vielleicht blind, aber nicht blöd. Und schon lange nicht arm, klein oder hilflos.“

„Natürlich nicht“, stimmte ich ihr zu. „Wie könntest du, wo du doch die Herrscherin der Welt bist?“

„Eben“, sagte Jette in bestimmtem Ton. „Ich bin die Herrscherin der Welt. Da habe ich ja wohl andere, die für mich die Augen offenhalten. Hey, Jehan, wach auf!“

Im Hintergrund hörte ich ein leises, etwas verwirrt klingendes „Mepp?“. Jehan hatte offensichtlich gerade ein kleines Schläfchen gemacht.

„Als ich vorhin Jehan gebeten habe, mir das Telefon zu bringen, ist er doch tatsächlich mit der Fernbedienung angekommen“, kicherte Jette. „Das sagt doch wohl alles. Funktionstüchtige Augen sind eine Sache, sie sinnvoll zu nutzen eine andere.“

„Und wie geht es dir nun wirklich?“, fragte ich. „Die Diagnose von der Tierärztin zu hören, war doch sicher nicht einfach, oder?“

„Ach, weißt du, ich wusste ja schon vorher, dass ich nichts mehr sehe. Also außer so ein bisschen Hell und Dunkel, ein paar Umrissen vielleicht… Aber für den großen freundlichen Mann war es wichtig, die Diagnose zu hören, denke ich. Er hatte sich ja ziemliche Sorgen gemacht, weil ich mich in der letzten Zeit gelegentlich beim Absprung vom Schreibtisch verschätzt habe und auf den Arsch gefallen bin. Nicht dramatisch oder so, aber er hatte natürlich Angst, dass ich eine schlimme Krankheit haben könnte. Dabei ist das mit der schwindenden Sehkraft nur eine Alterserscheinung.“

„Ich bin froh, das zu hören“, sagte ich, „vor allem, weil du so entspannt damit umgehst. Ein bisschen Sorgen hatte ich mir ja auch gemacht.“

„Ihr Menschen immer!“, lachte Jette. „Ich bin eine Katze und habe neun Leben. Nur weil ich siebzehn Jahre alt bin und nicht mehr gucken kann, gebe ich noch lange nicht den Löffel ab. Vor allem nicht, wenn noch Eis drauf ist. So wie gestern Abend. Hmmmmmm.“

Ich konnte hören, wie sie sich genießerisch die Lippen leckte.

„Kann man dir denn irgendwie helfen?“, fragte ich.

„Am meisten hilft es, wenn der große freundliche Mann nicht immer den Stuhl und den Kratzbaum verschiebt. Wenn ich weiß, wo die stehen, kann ich auch mit geschlossenen Augen auf den Schreibtisch und wieder runter springen. Und auf den Schreibtisch muss ich ja, um auf die Fensterbank und meinen Sonnenplatz zu kommen.“

„Und dass die Sonne scheint, das weißt du natürlich, auch wenn du nicht siehst?“

„Natürlich. Du vielleicht nicht?“

„Und sonst?“

Jette lachte. „Ich habe aus Spaß gesagt, dass ich gerne einen Blindenhund hätte, und Jehan wollte mir beim Googeln helfen, hatte aber irgendwie was falsch verstanden und hätte fast einen blinden Hund adoptiert.“

Nun lachte ich auch. „Au weia, das wäre was geworden.“

„Papperlapapp!“, sagte Jette in strengem Ton. „Den hätte ich auch noch mit durchgebracht, kein Problem.“

„Und was ist mit deinen Geschäften?“, fiel mir plötzlich ein. „Du kannst doch so keine Drogen verticken. Kann Jehan dir dabei helfen?“

„Lieber nicht!“, erwiderte Jette. „Medikamentenkunde war noch nie seine Stärke und ohne mich lässt er sich eh von jedem über den Tisch ziehen. Nein, ich übergebe die Geschäftsführung an den jungen Ole von nebenan und werde stille Teilhaberin. Ole bekommt dafür 4,5 % vom Umsatz.“

Zwar war ich nicht davon überzeugt, dass der schüchterne schwarz-weiße Nachbarskater Minze von Basilikum unterscheiden kann, geschweige denn dass er den Mut aufbringt, fremde Leute anzusprechen, aber Jette wird schon wissen, was sie tut. Das weiß sie nämlich immer.

„Gut“, sagt Jette, „dann bist du ja jetzt im Bilde und schreibst das alles ins Internet, okay?“

„Selbstverständlich“, stimme ich zu. „Wortwörtlich. Und ich komme auch bald zu Besuch nach Bremen.“

„Schön“, sagte Jette. „Ich freue mich immer, dich zu hören, zu riechen und zu spüren. Aber eins sage ich dir: Wenn du noch einmal den Witz mit ‚Wie viele Finger halte ich dir hier vor die Augen?‘ mit mir versuchst, dann werde ich dich auch schmecken. Hmmmm, Blut ist fast so köstlich wie Eis.“

„Keine Witze über Blinde“, versprach ich. Kennst du den, wo der Blinde den Lahmen fragt, wie es geht, und der Lahme sagt…?“

„Ja, den kenne ich: Wie Sie sehen. Haha.“

„Okay, dann streiche ich den von meiner Liste. Hab einen schönen Nachmittag, Jette, grüß den Jehan und den großen freundlichen Mann von mir und pass auf, wenn du vom Schreibtisch hüpfst!“

„Pass selber auf!“, gab Jette zurück. „Und nun lass mich, ich muss ein Nickerchen machen.“

Sie legte auf und ich eilte zum Schreibtisch, natürlich äußerst vorsichtig, um meine Notizen in einen Text zu verwandeln. Und vielleicht noch ein Zitat zu finden. Vielleicht.

 

„Blinder als blind ist der Ängstliche.“

Max Frisch

 

 

 

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