Morgens pünktlich aus dem Bett, unter die Dusche, in zwei zueinander passende Strümpfe sowie eine Hose und schließlich ins Büro zu kommen, fällt mir schon mein Leben lang sehr schwer. Schon damals, als das Büro noch eine Schule oder gar ein Kindergarten war, also vor sehr langer Zeit, musste ich gegen eine ganze Armee innerer Schweinehunde kämpfen, um wo auch immer pünktlich zu erscheinen. Also, wenigstens meine äußere Hülle.
Ich bin einfach kein Morgenmensch. Das Weckerklingeln, das heutzutage in Gestalt eines cellospielenden Smartphones daherkommt, kommt immer ungelegen, egal wann und nach wie vielen Stunden Schlaf es erfolgt. Der Schlaf kurz vor dem erzwungenen Aufwachen ist immer der beste und ich bin grundsätzlich verstört darüber, dass die Nacht jetzt schon vorbei sein soll, wo ich mich doch gerade erst in meiner zweiten Tiefschlafphase befinde!
Zum Glück muss ich ja, wenn man es mal objektiv betrachtet, nicht sehr früh aufstehen. Halb acht… da arbeiten andere Menschen schon und früher, in der gymnasialen Oberstufe, fing da bereits die erste Stunde an. Im Büro sein muss ich um halb zehn, was auch damit zu tun hat, dass mein Büro sich in einem Theater befindet, wo ja spätabendliche Aktivitäten zum Tagesgeschäft gehören und deshalb die einzuhaltende Ruhezeit verschiedener – höchst wichtiger – Berufsgruppen nicht früher beendet sein darf. Was die Arbeit in einem Theater, auch wenn ich nur höchst selten persönlich spätabends arbeiten muss, für mich grundsätzlich sehr attraktiv macht.
Wenn ich um halb acht aufstehe, habe ich Zeit, um entspannt zu duschen, mir die Haare zu waschen, diese dann weitgehend an der Luft trocknen zu lassen und währenddessen in Ruhe Kaffee zu trinken und halbwegs gemütlich meine Twitter-Timeline anzuschauen, in der es meistens gar keine Nachtruhe zu geben scheint, so dass ich morgens immer einiges nachzulesen habe.
Scheint? Schien. Seit einigen Wochen wird offenbar auch bei Twitter geschlafen. Nachts und auch tagsüber. Oder die Menschen, deren Kurznachrichten sonst in halbwegs regelmäßigen Abständen meine Timeline zierten, sind ausgewandert. Oder haben mich geblockt. Oder ihre Traurigkeit darüber, dass Twitter nicht mehr so ist wie es einmal war, hat nach und nach dazu geführt, dass sie verstummt sind oder ihren Output stark einschränken.
Meine Timeline wird nun beherrscht von gesponserten Tweets,von Threads und Chats und – örks – Massenmentions, von Aufrufen aller Art (z.B. zum Spenden, Demonstrieren, Blocken, Daumendrücken, Denken), von retweeteten Replys und einigen anderen Dingen, die ich früher als mehr oder weniger okayes Füllmaterial betrachtet bzw. übersehen habe. Nicht alles davon ist schlimm, aber nichts davon wäre für mich ein Grund, auf Dauer mehrmals täglich auf Verdacht meine Twitter-App zu öffnen.
Was ich in meiner Timeline nicht mehr oder kaum noch finde: Normale, eigenständige Tweets, bei denen sich im Rahmen von 140 oder 280 Zeichen ein kleines kreatives Universum entfaltet und die mich lachend, verblüfft oder bewundernd zurücklassen. Tweets, die mich inspirieren, selbst weiterhin nach dem perfekten Tweet zu suchen. Diese waren, wären und sind für mich der Hauptgrund, Twitter trotz aller nachteiligen Veränderungen auch nach Jahren noch treu zu bleiben – außer natürlich dem persönlichen Interesse an einigen Twitterern, die ich trotz der Entfernung und der Beschränkung auf den virtuellen Raum als Freunde betrachte und die ich deswegen regelmäßig nachlese. – Am liebsten ist es mir natürlich, wenn diese Freunde dann auch noch gute Tweets schreiben, also kleine eigenständige Kunstwerke in 140 oder 280 Zeichen, die mich auch zum Twittern anregen.
Aber den meisten meiner Lieblingstwitterer scheint es so ähnlich zu gehen wie mir: Sie schauen nur noch ab und zu mal rein und manchmal, wenn es in ihrer Timeline gerade wieder komplett spaß- und kunstbefreit zugeht, dann behalten sie ihre Ideen einfach für sich und gehen wieder.
Ich verstehe das und mache es ebenso. Und so kommt, dass ich morgens meistens nach ein paar Minute die Twitter-Timeline der letzten zehn Stunden nachgelesen habe. Dann schließe ich die App, lese ein paar Nachrichten und wenn mir die auch zu unerfreulich sind, starte ich ein Daddelspiel auf meinem Smartphone, Candy Crush oder Simon’s Cat Dash. Und dann vergesse ich die Zeit und komme kaum vierzig Millionen Jahre später mit halbtrockenen Haaren und in letzter Sekunde ins Büro.
Und finde es doof und vor allem schade. Sehr schade. Aber vielleicht ist das der Lauf der Welt. Jedes Ding hat seine Zeit und irgendwann ist die dann um. Ich hoffe, es ist noch nicht so weit für Twitter, unser Twitter, aber vielleicht lässt sich der „Untergang“ nicht mehr aufhalten. Nur verlangsamen oder nicht einmal das. Wir werden sehen. Also, hoffentlich so viele von uns, dass es noch ein „Wir“ gibt. Alles andere wäre einfach zu traurig.