Und dann klingelt nachts das Telefon.

Wenn du mitten in der Nacht vom Klingeln des Telefons geweckt wirst und du weißt, gleich wird dir jemand mitteilen, dass dein Vater gestorben ist.

Du bist seit Wochen in der Erwartung dieses Moments schlafen gegangen, hast dein Telefon immer bei dir gehabt und nie mehr lautlos gestellt. Du wusstest seit ein paar Tagen ganz genau, dass dieser Moment näher und näher rückt – eigentlich warst du gestern Nacht schon so gut wie sicher, dass es so weit sein würde, und hast morgens beim Aufstehen heimlich erstaunt, dass es nicht geklingelt hatte.

Nun ist es also so weit. Ich habe friedlich geschlafen, das Telefon klingelt, ich bin wach und denke: „Papa ist tot“. Mache das Licht an, gucke auf die Uhr (es ist zwei) und setze mich auf, die Füße auf den Boden. So eine Nachricht will ich nicht im Liegen entgegennehmen. Sollst ich mich mit meinem Namen am Telefon melden oder mit „Hallo?“, so wie sonst?

Ich melde mich mit meinem Namen, klar und deutlich. Am anderen Ende der Leitung ist eine Frauenstimme, vermutlich die ältere Pflegerin, die auch gestern schon Nachtdienst hatte und mit der ich kurz gesprochen habe. „Hier ist das Hamburger Hospiz“, sagt sie und ihren Namen, irgendeinen Doppelnamen, den ich schon wieder vergesse, während ich noch „Hallo!“ antworte.

„Ihr Vater ist vor einer halben Stunde verstorben“, sagt sie und spricht weiter, während ich mir ein „Können Sie nicht ‚gestorben‘ sagen, ‚verstorben‘ ist doch schrecklich!“ verkneife: „Ich war ungefähr fünfzehn Minuten vorher bei ihm, da hat er ganz ruhig dagelegen und geatmet und als ich das nächste Mal kam, war er eingeschlafen. Ganz friedlich.“

„Gut“, höre ich mich sagen, „ich bin froh, dass er es endlich geschafft hat und nicht mehr leiden muss. Haben Sie sonst schon jemanden angerufen oder bin ich die erste?“

„Ich habe noch niemanden angerufen“, erwidert sie. „In der Akte steht, dass Sie angerufen werden können, auch nachts. Ist doch richtig, oder?“

„Ja, natürlich“, sage ich, „das ist ganz richtig. Vielen Dank. Ich bin froh, dass ich jetzt weiß, dass er es überstanden hat.“

„Dann rufen Sie auch Ihre Mutter an? Oder soll ich das tun?“

„Nein, danke. Ich übernehme das und bespreche mit ihr, wann wir kommen.“

„Sie müssen nicht mehr heute Nacht kommen. Es reicht auch morgen früh. Ich brauche jetzt sowieso ungefähr eine Stunde.“

Natürlich. Das habe ich ja neulich gegoogelt. Bevor die Angehörigen kommen, sofern sie nicht ohnehin schon da sind, werden die Toten noch ein bisschen „zurechtgemacht“. Im Hospiz selbstverständlich mit allem Respekt, der ihnen auch vorher schon zuteil wurde. Das heißt, die Pfleger sprechen mit den Menschen, wie sie es vorher auch immer getan haben, und erklären ihnen, was sie tun. Die Toten werden bei Bedarf gewaschen und umgezogen und „zurechtgelegt“, also vermutlich Rückenlage mit gefalteten oder übereinander gelegten Händen. Der Schmerzmitteltropf und andere medizinische und pflegerische Artikel werden entfernt, statt dessen kommt eine Kerze auf den Nachttisch und vielleicht noch ein paar persönliche Gegenstände des Bewohners.

Nicht, dass es da viele persönliche Gegenstände gäbe. Mein Vater hat nicht viel mitgebracht, keine Bücher oder Bilder. Bin also gespannt, was die Pflegerin finden wird.

„In Ordnung“, sage ich ins Telefon. „Ich kann mir gut vorstellen, dass meine Mutter auch erst am Morgen kommen will, wenn das okay ist. Soll ich Sie noch einmal anrufen, wenn ich das geklärt habe?“

„Das müssen Sie nicht“, erwidert sie. „Sie können jederzeit kommen.“

Ich bedanke mich noch einmal und lege auf. Trinke einen Schluck Wasser und blicke mich im Schlafzimmer um. Das sieht aus wie vorher. Draußen ist es dunkel und es ist ganz still. Die Katzen, die während des Telefonats mal ein halbes Auge geöffnet hatten, schlafen längst wieder neben mir im Bett.

Meine Mutter ist beim dritten Klingeln am Telefon. Ich sage „Hallo!“ und „Das Hospiz hat gerade angerufen.“ und sie sagt: „Er lebt nicht mehr.“

„Nein“, sage ich. „Er hat gewartet, bis er alleine war, und dann ist er ganz still und friedlich gestorben. Sagt die Pflegerin. Vor ungefähr einer halben Stunde.“

„Puh“, sagt meine Mutter und: „Irgendwie bin ich erleichtert. Auch traurig, glaube ich, aber vor allem erleichtert.“

„Ich weiß“, erwidere ich. „Das geht mir ganz genauso.“

„Müssen wir sofort kommen oder reicht es am Morgen?“ fragt sie.

„Es reicht am Morgen“, sage ich.

„Gehen wir zusammen?“

„Natürlich.“

Wir legen auf, meine Mutter ruft meinen Bruder an, dann wieder mich und wir verabreden uns für den nächsten Morgen um neun im Hospiz.

Ich lege mich wieder hin. An Schlaf ist nicht zu denken, aber das macht mir ausnahmsweise mal nichts aus. Mir geht so viel durch den Kopf, dafür wird eine Nacht sowieso nicht reichen. Eigentlich fühle ich mich ganz gut, nicht sehr traurig, eher zufrieden im Grunde genommen. Wir haben so lange auf diesen Moment hingesteuert, nun ist er da und ich glaube, es ist alles gut.

Mein Vater ist nun endlich abgeholt worden… vielleicht von seinem jüngeren Bruder, seinen Eltern, dem kürzlich gestorbenen Nachbarn oder von Katzi, Audrey, Otello, Kinky, Maggie und Sina, die schon sehr hungrig darauf warten, dass er ihnen endlich eine Dose Katzenfutter aufmacht. Er ist auf dem Weg in den Himmel, auf seine persönliche Wolke, auf der er mit Sicherheit sehr bald sitzen und „Halleluja!“ singen und tausend andere wunderbare Lieder singen wird. Sein Windows-PC wird nie wieder abstürzen, das allein ist doch ein Grund zur Freude!

Wir, die Angehörigen und seine Freunde, werden um ihn trauern und uns nach und nach von dieser langen und intensiven Zeit des Abschieds erholen – hoffentlich, ohne sie zu vergessen. Meinen Vater vergessen wir sowieso nicht, das ist ja wohl klar. Er hinterlässt so viel und wird für immer Teil unseres Lebens sein, auch wenn er nicht mehr da ist.

Und überhaupt, nach achtzig Jahren, die man weitgehend gesund und munter gelebt hat, kann man ja wohl auch mal irgendwann sterben. Wann, wenn nicht dann? Mir fällt ein, dass er in zehn Tagen Geburtstag hat… ob wir die Beerdigung auf diesen Tag legen sollten?

Während mir Sinniges und Unsinniges durch den Kopf geht, wird es langsam hell draußen. Ich stehe auf, gehe duschen, mache mir Kaffee und schreibe eine E-Mail an meine Kollegen, „Heute ohne mich!“. Mein Freund, dem ich nachts noch eine Nachricht geschickt hatte, ruft an und wir verabreden uns für den Nachmittag, wenn er Feierabend hat, im Hospiz. Bei Twitter schaue ich kurz rein, schreiben mag ich aber nichts. Vielleicht später.

Irgendwann, als es endlich spät genug ist, bestelle ich mir ein Taxi. Es geht mir gut, der Taxifahrer ist freundlich und vergnügt, wir scherzen und als er mich in der Nähe des Hospizes rauslässt, wünscht er mir einen schönen Tag. Ich bedanke mich und denke: Wird schon werden.

Während ich mich über den gewohnten Schleichweg von hinten ans Hospiz heranschleiche, denke ich plötzlich: Das ist jetzt das letzte Mal, das ich hierher komme. Das ist schade. Ich bin gerne hier.

Schon von draußen sehe ich den großen Kerzenleuchter in der Eingangshalle. Eine Kerze brennt. Nur eine Kerze. Dann hat die türkische Nachbarin die Nacht überlebt und mein Vater hat den „Wettlauf“ gewonnen! Meine Mutter steht auf der Treppe und unterhält sich mit Pflegedienstleiterin, Frau G., die mich auch gleich sehr freundlich begrüßt und mir ihr Beileid ausdrückt. Meine Mutter und ich umarmen uns, auch sie hat trockene Augen und sieht nicht nur gefasst, sondern recht entspannt aus. Wir plaudern zu dritt, während wir auf meinen Bruder warten, und meine Mutter ist sehr froh zu hören, dass wir uns den ganzen Tag Zeit lassen können mit dem „Auszug“, dass niemand das Zimmer vorher beanspruchen wird.

Während ich mit meinem Bruder telefoniere, der hinter der Müllabfuhr im Stau steht, kommt Frau S., die Sozialpädagogin, ins Haus. Die sieht die brennende Kerze und uns, murmelt „Oh!“ und gesellt sich zu uns. Ich freue mich sehr, sie zu sehen, und noch mehr, als sie uns anbietet, mit uns nach oben zu gehen. Schließlich war sie mein erster Kontakt im Hospiz und durch ihre Anwesenheit heute schließt sich der Kreis ein bisschen mehr.

Wir gehen zusammen nach oben in die zweite Etage. Es ist sehr ruhig. An der Tür des Turmzimmers hängt ein kleiner Schmetterling aus Papier, ein Zeichen für Eingeweihte. Ich öffne die Tür und lasse meine Mutter vorangehen. Dann folge ich ihr und beim ersten Blick auf meinen toten Vater denke ich: Die haben da doch eine Puppe ins Bett gelegt. Das ist er doch nicht. Und die Puppe ist eine Nummer zu klein!

In der Tat scheint mein Vater seit gestern noch geschrumpft zu sein. Oder die Seele bzw. das Leben haben doch mehr Masse und Gewicht, als man immer so denkt. Auf jeden Fall ist mir schon beim ersten flüchtigen Blick vollkommen klar, dass da nur noch eine leere Hülle im Bett liegt. Mein Vater ist das nicht mehr. Nachvollziehbar, nach allem was sein armer Körper durchgemacht hat, ist er einfach kaputt und mein Vater sicher heilfroh, ihn jetzt hinter sich lassen zu können. Ich bin sicher, er hat sich da nicht länger als unbedingt nötig aufgehalten. Naja, was einem eben so durch den Kopf geht in solchen Momenten. Zum Glück sage ich das meiste davon nicht, sondern nur: „Er ist da nicht mehr drin. Er ist noch hier, aber nicht mehr in seinem Körper.“

Ich blicke mich im Zimmer um: Wie erwartet, hat der Nachtdienst alles Medizinische und den Tropf abgebaut. Stattdessen steht eine kleine Kerze auf dem Nachttisch, dazu das bisschen, was sie unter den vorhandenen Habseligkeiten als persönliche Gegenstände identifizieren konnte. Also ein paar CDs, die bei näherer Betrachtung dem Hospiz gehören, und das Foto von einem Mann, den ich nicht kenne (viel später erfahre ich, dass das nicht der geheime schwule Lebenspartner meines Vaters war, von dem wir alle nichts wussten, sondern der vor wenigen Wochen völlig überraschend gestorbene heterosexuelle Nachbar).

Mein Vater liegt, wie ebenfalls erwartet, auf dem Rücken und mit übereinandergelegten Händen. Sein Gesicht ist sehr klein, sehr glatt und sehr entspannt. Sein Mund steht ein bisschen offen und die Mundwinkel weisen nach oben. Ein leises Lächeln, könnte man sagen.

Ich begrüße ihn mit einem vermutlich noch etwas leiseren Lächeln und einem „Hallo Papilein!“. Meine Mutter steht eine ganze Weile an seinem Bett und freut sich über den friedlichen und entspannten Gesichtsausdruck meines Vaters, streichelt ihn sanft und hält stille Zwiesprache. Frau S. und ich warten auf sie und dann setzen wir uns zu dritt rund um das Bett und unterhalten uns, bis mein Bruder endlich eintrifft. Ich bin zufrieden. Die Atmosphäre im Zimmer ist luftig und leicht. Es geht ihm gut, da wo er jetzt ist, das steht mal fest.

Nachtrag: Ich habe dann später am Tag übrigens doch noch geweint. Abends, als das Beerdigungsinstitut kam, um meinen Vater abzuholen. Bei dem Gedanken, dass sich jetzt gleich der Sargdeckel über dem Körper meines Vater schließt, schossen mir plötzlich die Tränen in die Augen. Wobei ich gleichzeitig auch sehr lachen musste, weil die Bestatter zwei Aushilfs-Dorfdeppen waren, die meinen Vater (der ja höchstens noch 50 Kilo wog) beim Hochheben fast mitsamt Sarg vom Fahrgestell geschmissen hätten. Es war eine echte Slapsticknummer und ich eventuell ein bisschen hysterisch. Was aber meinem Vater wiederum vermutlich sehr gefallen hätte.

7 Kommentare

  1. Ihre Texte über das Sterben Ihres Vaters sind grandios geschrieben, ich liebe den Humor darin und die Geradlinigkeit (und wische mir die ein oder andere Träne aus dem Gesicht).
    Sehr bewegend, sehr grandios, sehr lesenswert.
    Ich bedanke mich von Herzen dafür, dass Sie dies alles hier aufgeschrieben und geteilt haben. <333

  2. Danke für das intime Teilhabenlassen und die wundervollen, einfühlsamen Worte über dieses „Tabu“-Thema, das doch eigentlich keines sein sollte. Denn wenn etwas sicher ist, dann dass wir alle irgendwann gehen müssen. Wie dankbar, wenn man dabei derart sanft begleitet wird. <3

  3. .

    Ich war ja damals dabei. Auf diesem Twitter. Und es hat auch mir gut getan, dass jetzt noch mal in der Gänze mit Dir zu erleben und abarbeiten zu dürfen. Ich hoffe, dass Dir das Aufschreiben so hilft und gut tut, wie es mir damals bei meiner Mum geholfen hatte.

  4. es ist für mich sehr berührend zu lesen, dass die Empfindungen, die ich beim Anblick meiner gestorbenen Mutter, sich so ähneln. Sie lag zwar da, aber sie war nicht mehr da. Und wie wunderschön der Tod aussehen kann. Dieser Frieden im Gesicht. Für mich hat diese Erfahrung den Schrecken vorm Tod genommen.

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