Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Teil 2

Außerordentlich nervös hielten Jette und Jehan eine dringende Besprechung ab. Was sollten, was konnten sie tun, um sich dezent und ohne das Gesicht zu verlieren aus dem Dunstkreis des Siam Capone zu entfernen? Natürlich nicht, ohne dabei sämtliche Exemplare und sonstige Spuren von Jehans Doktorarbeit verschwinden zu lassen. Und die Fernuniversität von Meppen am besten gleich mit – oh, Moment, die gab es ja gar nicht. Umso besser.

Am besten verlassen wir gleich die ganze Stadt, schlug Jehan vor, nur um sicher zu gehen. Ich möchte diesen sabbernden Rottweiler wirklich nicht noch einmal riechen müssen.

Wir sollen Hamburg verlassen? Jette war unschlüssig. Aber wo sollen wir denn hin? Du willst doch nicht etwa zurück nach Dithmarschen?

Natürlich nicht, erwiderte Jehan, da ist mir der Boden auch zu heiß seit der Geschichte mit den Kohlköpfen, der Ziege und der Katze.

Und was machen wir mit dem Mann? Den können wir doch nicht einfach hier lassen. Ohne uns wird er es in dieser Stadt niemals schaffen. Jette war besorgt. Der große freundliche Mann war in kürzester Zeit ziemlich abhängig von den beiden weißen Katzen geworden und sie waren ihm auch herzlich zugetan. Er konnte gut kraulen und stellte doch ihre Grundversorgung mit recht wohlschmeckendem Katzenfutter sicher, so dass sie nicht bei hamburgtypischem Wetter selbst vor die Tür mussten, um Mäuse zu fangen oder Vorschülern ihr Pausenbrot zu klauen.

Stimmt, sagte Jehan, der Mann. Den hatte ich schon wieder ganz vergessen. Kein Wunder, wenn er immer stundenlang aus dem Haus geht und ich ihn nicht vor mir sehe. Mepp.

Das macht er, weil er arbeiten muss, sagte Jette, um uns zu ernähren.

Arbeiten? Jehan war verwirrt. Ich dachte, er geht auch auf den Golfplatz, so wie ich am Mittwoch- und Freitagnachmittag.

Ach Jehan, sagte Jette, er ist doch kein Arzt. Golf kann er sich nicht leisten, weil sein ob nicht besonders gut bez… Oh, das ist eine gute Idee: Wir verschaffen ihm einen neuen, besser bezahlten Job in einer anderen Stadt. Dann wird er sich um alles kümmern und wir müssen keine Kralle krumm machen!

Meine Krallen sind schon krumm, antwortete Jehan nachdenklich, aber Jette hörte ihm nicht zu, weil sie schon am Laptop saß und nach einem passenden und gut bezahlten Job für den großen freundlichen Mann suchte. Dies erforderte natürlich allerlei Geschick, was aber für Super-Jette (wie sie sich selbst manchmal nannte) kein Problem darstellte.

Es dauerte keine zwei Tage, bis abends das Telefon des großen freundlichen Mannes klingelte und ihm ein neuer Job angeboten wurde. In Bremen. Ein interessanter Job mit einem höheren Gehalt. Und der große freundliche Mann konnte, wie erwartet, nicht anders: Er nahm den Job an und fing an, in Bremen eine Wohnung zu suchen (was erheblich schneller ging als erwartet, nachdem Jette sich in das Computersystem eines großen Bremer Wohnungsbauunternehmens gehackt und einige Dateien manipuliert hatte).

Es dauerte etwas länger als zwei Tage, aber nicht wirklich sehr lange, bis der Umzug dann tatsächlich über die Bühne ging. Jette und Jehan sahen dem großen freundlichen Mann tagelang dabei zu, wie er alle seine und auch ihre Sachen in Kartons verpackte, und waren auch nicht besonders überrascht, als plötzlich zwei Katzentransportboxen in der Wohnung auftauchten.

Ich will aber nicht in so eine Box, zischte Jehan, während er unter das Bett galoppierte und sich dort in der hintersten Ecke zusammenkauerte.

Ich weiß, es ist schrecklich und erniedrigend, gab Jette zu, aber es ist auch die unauffälligste Art, von hier zu verschwinden. Wir wollen doch sicherstellen, dass Siam Capone unsere neue Adresse gar nicht erst erfährt.

Am letzten Tag vor dem Umzug stand wieder der Rottweiler vor der Tür und brachte einen Haufen Papier mit, den er unter der Tür hindurch in die Wohnung schob. Das sind die Reste der Doktorarbeit, erklärte er. Ich habe nur zwei Absätze gelesen, aber: Was für ein Quatsch.

Mepp, erwiderte Jehan beleidigt.

Du kannst doch gar nicht lesen, gab Jette zurück, und bist beleidigt, dass auf der ersten Seite keine Bilder sind. Und nun verpiesel dich und sagt Siam Capone, dass wir morgen die Stadt verlassen, Richtung Osten.

Osten? Jehan war verwirrt. Aber Br…

OSTEN! Jette sprach deutlich lauter, um ihren Bruder zu übertönen. Wir ziehen in den Osten.

Das werde ich Siam Capone berichten, rief der Rottweiler. Und lasst euch hier nie wieder blicken!

Worauf du einen lassen kannst, gab Jette gelassen zurück. Ach so: Hast du ja schon.

Meine Güte, Jehan, machte Jette ihrem Bruder nun Vorwürfe. Du kannst dem Idioten doch nicht erzählen, in welche Stadt wir ziehen!

Jehan, der angestrengt dabei war, den Papierstapel mit den Resten seiner Doktorarbeit mit Zähnen und Krallen in Konfetti zu verwandeln, hielt kurz inne und fragte: Wohin ziehen wir nochmal?

Jette stöhnte nur und beendete die Unterhaltung.

Am nächsten Tag ließen sich die beiden Katzen mit relativ wenig Gegenwehr und nur ganz geringen Mengen an Blut, Schweiß und Tränen in ihre Transportboxen setzen. Diese trug der große freundliche Mann dann zu seinem Auto und auf ging es, zu Jehans Überraschung doch eher in Richtung Süden. Die Fahrt dauerte gar nicht lange, die Zeit reichte gerade, um die Boxen vollzupinkeln und dem großen freundlichen Mann die Ohren vollzujammern. Dann waren sie schon da, wurden aus dem Auto gehoben und in ein Haus getragen, in eine Wohnung und dort in eine Küche.

So, sagte der große freundliche Mann. Ich glaube, das ist der sicherste Ort für euch, wenn morgen das Umzugsunternehmen die restlichen Sachen hier reinbringt und aufbaut. Die Waschmaschine stellen wir dann erst ganz zum Schluss hier rein und bis dahin seid ihr hier sicher aufgehoben.

Er installierte noch ein Katzenklo, das Körbchen, in dem Jette und Jehan normalerweise schliefen, Futter und Wasser, um sich dann von den Katzen zu verabschieden: So, ihr beiden, dann bis morgen.

Jette und Jehan hatten die ganze Zeit stumm und regungslos in ihren Boxen gesessen, obwohl der große freundliche Mann natürlich die Türen geöffnet hatte. Auch nachdem er die Wohnung verlassen hatte, warteten sie eine Weile aufmerksam lauschend, bevor sie die Boxen verließen.

Wo sind wir denn hier gelandet? Jette sah sich aufmerksam um. Sie befanden sich in einer ziemlich kleinen Küche, in der es nicht nach Essen roch. Die Tür war verschlossen und das Fenster auch. Sie hüpfte leichtfüßig aus dem Fenster und spähte hinaus: Nicht viel zu sehen, verkündete sie. Hier scheint sehr viel weniger los zu sein als in St. Pauli.

Wir sind ja auch im Osten, sagte Jehan düster und berührte mit der Pfote vorsichtig die Blende eines Unterschrankes. Diese bewegte sich auch. Oh, sagte Jehan aufgeregt, ich glaube, die kann ich abmachen. Hast du mal ein Brecheisen?

Jette schaute gar nicht erst in ihre Handtasche, sondern bedachte ihren Bruder mal wieder mit einem dieser Blicke. Sie wissen schon: dieser BLICKE.

Jehan zuckte kurz zusammen, wandte sich dann aber wieder der lockeren Verblendung an der Küchenzeile zu und stellte – zum wiederholten Male in seinem Leben und voller Überraschung – fest, dass seine rechte Vorderkralle so eine Art Multifunktionswerkzeug war und bestens dazu geeignet, Möbel auseinanderzubauen.

Schau mal, Jette, rief er begeistert, hier ist eine Höhle. Nein, ein Tunnel. Vielleicht ein Fluchttunnel? Ein Fluchttunnel nach West-Berlin? Los, komm!

Nach Westberlin? Jette zuckte entnervt die Achseln. Jehan, wir sind in Bremen. Nicht in Ost-Berlin.

Aber Jehan hatte sich bereits vollständig in die Lücke zwischen der Spüle und dem Fußboden gezwängt und war nicht mehr zu sehen.

Nun komm schon, hörte Jette ihn rufen, weit entfernt und ziemlich dumpf, hier geht es weiter und…. OH, nach unten! Polterkrachschepper.

Jehan?

JEHAN???

Nichts.

Ach verdammt, murmelte Jette, stellte ihre Handtasche ab, zog ihre vier rosafarbenen Pumps aus und zwängte sich ebenfalls durch die Lücke und den Fluchttunnel.

Fortsetzung folgt.

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.