Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Teil 3.

Kalt, dunkel, muffig. Der von Jehan entdeckte Fluchttunnel entsprach so gar nicht Jettes Vorstellungen von einem sicheren Ort. Zu wenig Schuhregale, zu wenig Heizkörper, zu wenig Internet. Wenn sie nicht aufpasste und die Wände berührte, würde sie womöglich sogar ihr Fell beschmutzen.

Jette machte sich so klein wie möglich und tastete sich vorsichtig durch den engen Gang.

„Jehan? Jehan, bist du da? JEHAN?“

„Ich bin hier“, hörte sie aus der Ferne die aufgeregte Stimme ihres Bruders. „Beeil dich! Ich glaube, hier gibt es einen Weg nach draußen. Nach Westberlin!“

„Wir sind in Bremen“, schimpfte Jette leise vor sich hin, „wahrscheinlich führt der Fluchttunnel irgendwo in die Pampa. Oder noch schlimmer: Nach Bremerhaven. Und was soll das heißen: nach draußen? Sei vorsichtig, Jehan. Draußen regnet es womöglich, es gibt Hunde und Ratten und Autos und was weiß ich noch alles!“

„Ich liebe die Gefahr!“ hörte sie Jehan dumpf rufen. „Stell dir doch mal vor, was wir draußen alles erleben können! Ich muss nur hier diesen Stein wegschieben, dann passe ich durch die Öff… Oh. Ich glaube, ich stecke fest. Jette? JETTE?“

„Sei still und beweg dich nicht“, gab Jette ärgerlich zurück. „Ich bin gleich bei dir. Aber meine Füße sind ganz schmutzig.“

Endlich, sie hatte eine leichte Biegung durchquert, konnte sie das staubige Hinterteil ihres Bruders sehen. Er steckte in der Tat in der etwas zu engen Öffnung fest und konnte nicht vor und zurück.

„Das ist ja nun doof“, stellte Jette fest, während sie auf ihre rechte Vorderpfote spuckte und anfing, die Kehrseite ihres Bruders zu säubern. „Du lernst es wirklich nicht mehr, oder?“

„Lernen?“, frage Jehan, „was denn? Ich bin doch ein Doktor. Vielleicht sollte ich Professor werden, dann könnte ich lehren.“

Das wollte Jette sich nun lieber gar nicht erst vorstellen. Sie packte ihren Bruder mit kräftigem Griff am Schwanz und zog.

„Aua!“ schrie Jehan empört. „Das tut weh.“

„Du musst schon mithelfen“, sagte Jette, „ausatmen und dich mit den Vorderpfoten zurück in den Tunnel drücken.“

„Aber ich will doch raus!“

„Dafür müssen wir erst die Öffnung vergrößern. Das geht aber nicht, solange du darin festklemmst. Aber wenn du keine Kraft mehr hast, kann ich natürlich auch Siam Capone anrufen und fragen, ob er uns den Rottweiler schickt.“

Vor lauter Schreck ob dieser Drohung hielt Jehan die Luft an, wodurch sich sein Umfang verringerte, und Jehan konnte ihn ohne viel Mühe zurück in den Tunnel zerren.

„Wie siehst du eigentlich aus?“, fragte sie dann entsetzt, spuckte sich erneut in die Pfote und begann, ihrem Bruder das Gesicht zu säubern.

„Spinnst du?“, schrie Jehan aufgebracht. „Hör auf, mir deinen Sabber ins Gesicht zu wischen. Du bist nicht meine Mutter.“

„Deine Mutter, deine Mutter…“, murmelte Jette unheilvoll, „deine Mutter ist auch meine Mutter.“

„Und?“, fragte Jehan.

„Nichts und!“, sagte Jette.

Gemeinsam zerrten die beiden nicht mehr ganz so weißen Katzen den Stein zur Seite, der einen großen Teil der Öffnung versperrte. Danach passten sie ganz bequem hindurch… und landeten in einem ziemlich stacheligen Gebüsch, das wegen der winterlichen Jahreszeit gerade keine Blätter trug und infolgedessen als Sichtschutz eher ungeeignet war. Jette machte sich im Geiste eine Notiz, ein paar Gardinen anzubringen.

Vorsichtig traten Jette und Jehan ins Freie und sahen sich um.

„Das ist also Westberlin“, sagte Jehan nachdenklich. „Sieht eigentlich ganz normal aus… Oh guck mal, da ist die Mauer!“

„Das ist eine Hauswand“, stellte Jette richtig. „Wahrscheinlich die Wand von dem Haus, in dem wir wohnen. Und außerdem ist das hier Bremen. Bremen-Oberneuland.“

„Bremen-Oberneuland?“, fragte Jehan überrascht. „Aber liegt das denn im Westen?“

„Ziemlich weit im Westen“, erwiderte Jette. „etwa 400 Kilometer von Berlin entfernt.“

„Wir sind in dem Tunnel 400 Kilometer gelaufen? Das kam mir gar nicht so weit vor.“

„Das liegt daran, dass wir nicht in Westberlin, sondern in Bremen-Oberneuland gestartet sind. Ich schätze, wir haben eine Entfernung von etwa 4 Metern zurückgelegt.“

Jehan legte die Stirn in Falten, sah sich um und schwieg. Manchmal brauchte er einen kleinen Moment, um all die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Wenn er in diesen Momenten etwas sagte, dann meist etwas, das für Menschenohren wie „Mepp!“ klang.

„Lass uns wieder reingehen“, schlug Jette vor. „Es ist doch etwas kühl hier draußen. Aber sehr praktisch mit dem geheimen Ausgang.“

Sie schob den noch immer sprachlosen Jehan mit etwas Kraft und einem energischen Tritt in den Hintern wieder in die Öffnung zum Tunnel. Da er daran gewöhnt war, dass Jette ihm sagte, was zu tun war, trat er ohne weiteren Widerstand den Weg zurück in die warme Küche der neuen Wohnung an. Jette folgte ihm, nach wie vor sehr darauf bedacht, möglichst nichts zu berühren, was Spuren auf ihrem ehemals weißen Fell hätte hinterlassen können. Im Geiste ließ sie sich schon ein heißes Bad mit Geschirrspülmittel in der Küchenspüle ein und hoffte, dass genug Handtücher da waren.

Als sie sich wieder durch die kleine Öffnung unter dem Schrank in die Küche gezwängt hatten, setzte Jehan gewissenhaft die abmontierte Blende wieder an ihren Platz und befestigte sie.

„Dieser Fluchttunnel nach Westberlin bleibt unser Geheimnis“, sagte er verschwörerisch zu Jette. „Er wird uns gute Dienste tun, aber den großen freundlichen Mann geht das gar nichts an.“

„Sehr richtig“, erwiderte Jette. „Der braucht davon gar nichts zu wissen. Und nun komm, du musst mir den Rücken einseifen.“

Fortsetzung folgt.

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