Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Teil 5.

„Hast du jetzt alle deine Schuhe eingepackt?“, fragte Jehan, etwas außer Atem, nachdem er versucht hatte, sein Bettchen in die große Reisetasche zu stopfen.

„Natürlich nicht“, erwiderte Jette, „was soll ich denn in Hamburg mit 638 Paar Schuhen? Ich nehme wirklich nur die allerwichtigsten mit, die, die ich dringend brauche.“

Jehan betrachtete voller Bewunderung den riesigen Stapel Schuhkartons, den Jette zum Verpacken herangeschleppt hatte. Seiner Schätzung nach hätte man damit alle Katzen zwischen Bremen und Hamburg neu ausstaffieren können, und ein paar Hunde noch dazu.

„Von mir aus“, brummelte Jehan, während er seine Kuscheldecke vom Sofa zerrte, „Hauptsache, es bleibt noch Platz für meine Bürste und dein Spielzeug.“

Während Jette kurz von ihren Schuhkartons abließ und mit leichtem Schritt durchs Wohnzimmer hüpfte, um vier Fellmäuse, eine kleine Ente und ihr Lieblingseichhörnchen einzusammeln, betrat der große freundliche Mann das Wohnzimmer. Genauer gesagt: Er versuchte, das Wohnzimmer zu betreten. Dazu musste er mehrere Schuhkartons zur Seite schieben, wobei er auf Jehans Kuscheldecke ausrutschte, gefährlich schwankte und schließlich mit einem lauten Plumps auf dem Sofa landete.

„Bist du wahnsinnig geworden, Jette?“, fragte er dann, während er seinen entsetzten Blick über die Kartonlandschaft schweifen ließ. „Ich habe doch gesagt, wir reisen mit kleinem Gepäck. Jedenfalls, solange ich den ganzen Kram zum Auto tragen muss.“

„Pah!“, machte Jette nur, setzte sich aufs Sofa, rollte ihren Schwanz ordentlich um die Vorderpfoten und schloss die Augen.

Jehan und der große freundliche Mann warfen sich einen entnervten Blick zu. Jehan überlegte kurz, ob es sich lohnen könnte, doch lieber mit dem großen freundlichen Mann zur Kur zu fahren statt mit seiner verrückten Schwester nach Hamburg, wo ja noch zwei Katzenfräuleins warteten, die eventuell auch mehr an Schuhen interessiert waren als an gute Gesprächen.

Jedoch: Lotti. Wer konnte schon sagen, ob die Chance, diese wunderschöne Katze in ihrer ganzen und wundervollen Person zu treffen, sich noch einmal ergeben würde?

Entschlossen schob Jehan noch ein paar Kartons mehr zur Seite und begann, seine Kuscheldecke in die Reisetasche zu stopfen. Und das Spielzeug – nicht dass er oft Lust hatte, Mäuse zu jagen, aber Jette reagierte sich manchmal ganz gut ab dabei und ließ nicht ihre ganze Energie an ihrem Bruder aus.

„Euer Katzenklo muss ja auch mit“, überlegte der große freundliche Mann laut, „und Katzenfutter und Streu. Ganz schön viel Zeug. Euch muss ich ja schließlich auch noch tragen.“

„Wenn ich das Auto fahren darf, musst du mich nicht in den Korb stecken, dann komme ich freiwillig mit“, schlug Jehan vor, aber natürlich war alles, was der große freundliche Mann hörte, wieder mal: Mepp. Na ja, so waren die Menschen nun einmal: etwas beschränkt, wenn es um das Lernen von Fremdsprachen ging.

Und so wurden die beiden Katzen kurze Zeit später von dem eigentlich großen freundlichen Mann, der allerdings in gewissen Momenten auch sehr übergriffig und hinterhältig sein konnte, in ihre Transportboxen verfrachtet. Das Einpacken des Reisegepäcks war beendet, erklärte der große freundliche Mann, nichts passte mehr in die Reisetasche und so konnte auch nichts mehr mitkommen nach Hamburg.

Puh, dachte Jehan, während er an den Gitterstäben seines Körbchens rüttelte (mehr pro forma, das gehörte sich eben einfach so), zum Glück habe ich die Schmusedecke einpacken können, bevor Jette einfiel, dass sie ja auch noch ihre rosa Flipflops und die pinkfarbenen Bettschühchen mitnehmen muss.

Puh, dachte Jette, die angewidert aber still in ihrem Transportkörbchen hockte und so tat, als ginge sie das alles nichts an, zum Glück konnte ich im letzten Moment noch Jehans Zeug wieder aus der Tasche ziehen und meine Flipflops und die wunderhübschen Bettschühchen unterbringen. Leonie wird sicher sehr beeindruckt sein.

Puh, dachte der große freundliche Mann, das war anstrengend. Hoffentlich haben wir jetzt alles, mir schwirrt der Kopf.

Und so kam es, dass außer Jette und Jehan und dem großen freundlichen Mann 637 Paar Schuhe nach Hamburg fuhren, das Katzenbettchen, Jehans Schmusedecke und das Spielzeug aber in Bremen blieben.

Von Bremen nach Hamburg ist es mit dem Auto ja gar nicht so weit. Aber weit genug, dachte der große freundliche Mann und trat kräftig aufs Gas, während Jette und Jehan sich auf dem Rücksitz in ihren Körbchen freundlich aber lautstark darüber unterhielten, dass Menschen wirklich langweilige Autofahrer waren.

„Nun überhol den Laster doch endlich!“, rief Jette, „von mir aus auch rechts, sonst dauert das hier noch ewig. Mir ist kalt und ich muss mal Pipi!“

„Sind wir bald mepp?“, fragte Jehan.

„Könnt ihr mal die Klappe halten?“, fragte der große freundliche Mann und trat das Gaspedal noch etwas weiter durch. Der betagte aber sehr zuverlässige Kleinwagen heulte auf und schoss davon, als wäre die Feuerwehr hinter ihm her. Da er für diese Art Geschwindigkeit nicht gemacht war, rüttelte und klapperte es in der Fahrgastkabine so laut, dass nicht einmal Jette noch Lust hatte, ihren Bruder über den Lärm hinweg anzuzicken. So erreichten die drei nur geringfügig später leicht erschöpft und schweigend die große Stadt.

„Gut“, sagte der große freundliche Mann, nachdem er das schwitzende Auto geparkt hatte, „da wäre wir. Ich trage erst eure Klamotten rein und dann hole ich euch. Kleinen Moment.“

Klapp, so fiel die Tür zu und Jette und Jehan waren allein im Auto.

„Los!“, schrie Jehan, „Ausbruch!“ Und er rüttelte so heftig an den Gitterstäben seines Körbchen, das dieses umfiel und auf der Seite landete.

„Jehan“, mahnte Jette, „schrei hier nicht so rum. Es gucken schon alle.“

Tatsächlich. Da der große freundliche Mann das Auto genau vor einem nett aussehenden Café geparkt hatte, vor dem eine Anzahl nett aussehender Menschen an kleinen Tischen saß, war Jehans Kampfschrei nicht ungehört verhallt. Mehrere besorgt aussehende Personen standen rund um das kleine Auto und betrachteten die in zwei schwankenden und wackelnden Körbchen sitzenden Katzen.

Zum Glück war der große freundliche Mann sehr schnell wieder da und konnte gerade noch verhindern, dass wohlmeinende Passanten eine Scheibe in seinem Auto einschlugen, um die Katzen vor einem qualvollen Hitzetod ohne Luft und Wasser zu bewahren. Da der Kalender Februar und das Thermometer 14 Grad anzeigten, hatte er die Lage als nicht besonders bedrohlich eingeschätzt. Ohne sich auf Diskussionen einzulassen, griff er sich die beiden Katzenkörbchen, verhängte sie sorgfältig mit Handtüchern und hob sie aus dem Auto. Nur wenige Schritte, dann betrat er einen Hausflur und begann, seine kostbare Fracht eine Treppe hinaufzutragen.

Jette und Jehan saßen ganz still, sagten nichts und versuchten, so viele Informationen wie nur möglich aufzunehmen und abzuspeichern. Wie man das eben so macht, wenn man entführt wird und sich später bei der Befragung durch einen Tatortkommissar nicht blamieren will.

Bereits im ersten Stock des großen, kühlen und etwas muffig riechenden Hauses öffnete sich eine Tür und die Stimme der dicken freundlichen Frau sagte: „Da seid ihr ja endlich. Kommt rein!“

Während der große freundliche Mann die beiden Transportboxen geradeaus in ein kleines Zimmer trug, konnte die hinter ihrem Handtuch hervorlugende Jette ein kleines Schild lesen, das an die Tür gehängt worden war. Darauf stand: Herzlich willkommen Jette und Jehan. Darunter waren zwei bunte Katzenköpfe gemalt worden.

Da der große freundliche Mann die Tür des kleinen Zimmers sofort von innen schloss, wurden die Urbewohnerinnen der Wohnung nicht sichtbar, obwohl man sie natürlich deutlich riechen konnte.

„So“, sagte der große freundliche Mann und stellte die Boxen ab. „Da wären wir.“

Natürlich hatten Jette und Jehan sofort erkannt, dass ihre Boxen auf einem Bett abgestellt worden waren. Ihre Urinstinkte setzten sofort ein und die Türen der Boxen waren noch nicht ganz geöffnet, da huschten schon zwei weiße Blitze aus ihren Behältnissen, hechteten vom Bett und versteckten sich darunter, ganz hinten in der Ecke.

„Ich hatte aber gar keine Angst!“, behauptete Jehan, während er sich zitternd an Jette schmiegte.

„Natürlich nicht“, gab Jette zurück, die auch etwas bebte, „aber sicher ist sicher.“

Fortsetzung folgt.

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.