Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Teil 6.

„Fräulein Lotti, Ihr Winterfell steht Ihnen ganz ausgezeichnet. Sie sehen bezaubernd aus heute!“

„Sie schmeicheln mir, Herr Dr. Jehanski! Das alte Fell, das fällt ja schon bald wieder aus!“

Lotti kicherte auf eine verschämt-schrille Weise, die ihrer Schwester Leo ihr eigenes Winterfell zu Berge stehen ließ. Neben ihr saß Jette, der auch ein wenig die Mimik eingefroren war beim Belauschen des Wortwechsels zwischen Lotti und Jehan. Eines der vielen Wortwechsel zwischen Lotti und Jehan. Wahrscheinlich, dachte Leo bei sich, musste sie noch dankbar sein, dass Jehan Lotti nicht die Pfote auf den Allerwertesten gelegt hatte, denn das führte unweigerlich dazu, dass Lotti unverschämt-schrill quietschte und Jehan als „ollen Wüstling“ bezeichnete. Was dieser mit einem ungerührten Mepp beantwortete, natürlich ohne die Pfote wegzunehmen.

Leo und Jette warfen sich verständnisvolle Blicke zu. Es war halt nicht leicht, das klügere von zwei Geschwistern zu sein, das viel klügere. Darüber musste man gar nicht viel sagen, ein gelegentliches Stöhnen, begleitet von ausdrucksstarkem Augenrollen, reichte völlig aus.

Jette betrachtete ihren verliebten Bruder von der Seite. Das Entzücken über den Anblick von Lotti ließ ihn manchmal wirken wie einen ganz jungen Kater. Das war ja eigentlich ganz rührend und ganz schön, fand Jette. Andererseits war sie doch froh, dass Dr. Jehanski zurzeit nicht praktizierte und dass ihn hier in Hamburg kaum jemand kannte. Auch dass er mit dem Internet nichts anzufangen wusste, empfand sie momentan durchaus als Vorteil, obwohl es sie normalerweise eher aufregte und ärgerte, dass Jehan zu weltfremd für die einfachste Online-Bestellung war. Aber nun gerade, in diesem Moment, musste sie wohl froh darüber sein, dass seine Schwärmerei für Lotti nicht in der digitalen Welt widergespiegelt wurde. Außer durch gelegentliche Fotos und Kommentare der dicken freundlichen Frau, die das alles für einen großartigen Witz hielt. Sie war aber eben auch nicht mit den Beteiligten, die sich da zum Deppen machten, verwandt, sagte Jette und Leo stimmte ihr aus vollem Herzen zu.

Inzwischen hatte sich Lotti mit mehreren großen Sprüngen auf den Kratzbaum gerettet und in dem Körbchen auf der obersten Plattform niedergelassen. Jehan saß ein paar Schritte entfernt auf der Fensterbank, pfiff ein meppiges Liedchen und warf ihr in regelmäßigen Abständen unzüchtige Blicke zu, die von Lotti mit unzüchtigen Quietschern beantwortet wurden.

„Sollen wir uns im Internet Schuhe anschauen?“, schlug Jette vor.

„Schon wieder Schuhe?“, fragte Leo, „du hast doch erst gestern zwei Paar bestellt. Lass uns lieber nach Snacks gucken.“

„Snacks?“, fragte Jette misstrauisch. „Na gut, aber nicht von meinem Geld!“

„Natürlich nicht“, erwiderte Leo. „Das machen wir mit der Kreditkarte der dicken freundlichen Frau. Die merkt das gar nicht.“

„Nicht mal, wenn wir ihr jetzt den Laptop wegnehmen?“, fragte Jette. „Es sieht aber so aus, als würde sie ihn gerade benutzen!“

„Kein Problem!“, versicherte ihr Leo. „Ich lenke sie kurz ab und du holst den Laptop.“

Und schon hüpfte sie auf den Schreibtisch, baute sich vor der dicken freundlichen Frau auf und machte ein niedliches Gesicht.

„Awwww, Leo“, gurrte die Frau entzückt, „du bist ja süß! Ich mache nur ein Foto von dir und dann arbeite ich weiter!“

Sie griff zum Smartphone, aktivierte die Kamera-App und ging in Stellung. Im selben Moment legte Leo die Ohren zurück, kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf weg. Dann sprang sie auf, hopste vom Tisch und setzte sich auf die Fensterbank, wo sie sofort wieder eine extrem niedliche Pose einnahm.

Die dicke freundliche Frau folgte ihr wie gebannt und ohne nach rechts oder links zu schauen. Kein Problem für Jette, das Stromkabel zu ziehen und den Laptop unauffällig vom Tisch zu ziehen. Während Leo jetzt wie ein Profi-Model für die dicke freundliche Frau posierte, zerrte sie den Laptop unter das Bett im Nebenraum und rief ihre Lieblingswebsite auf: www.rosapumpsinkleinengrößen.de.

„Jette!“, sagte Leo, die gerade das Zimmer betrat, „wir wollten nach Snacks gucken!“

„Richtig“, murmelte Jette, „Snacks. Guck, hier: Snacks aller Art. Hm, köstlich!“

Das überraschte, aber nicht sehr überraschte „Wo ist mein Laptop?“ aus dem Wohnzimmer hörten die beiden Katzen kaum. Sie lagen gemütlich unter dem Bett, wo ein Heizungsrohr wohlige Wärme verbreitete, und bestellten Snacks. Viele Snacks. Mit der Kreditkarte der dicken freundlichen Frau.

Bis auf einmal Lotti ins Zimmer gebraust kam und fauchend auf dem Bauch unter das Bett schlidderte. Ihr auf den Fersen natürlich Jehan, der nur ein laszives Grinsen im Gesicht trug und sonst nichts.

„Komm, Lotti“, schmeichelte er, „du willst es doch auch!“

„Ich will es nicht!“, kreischte Lotti erbost und bemühte sich, außer Reichweite seiner langen Arme zu kommen. „Und überhaupt: Was eigentlich?“

„Orrrrrrr“, murmelte Jette. „Nehmt euch ein Zimmer!“

„Nicht dieses Zimmer“, fügte Leo hinzu, „auch wenn es im ersten Moment aussieht wie ein Schlafzimmer.“

„Nimm deine frechen Pfoten da weg, du Halunke!“, schrie Lotti. „Da auch, das kitzelt. Und da… oh, da fühlt es sich ganz gut an. Noch ein bisschen weiter links bitte.“

„Mepp“, sagte Jehan und versuchte sein Glück ein bisschen weiter links.

„Spielt ihr schön?“, erkundigte sich die Stimme der dicken freundlichen Frau aus der Ferne. „Wo seid ihr überhaupt? Ich will jetzt mit eurem Papa telefonieren, Jette. Du willst ihn doch sicher auch sprechen, oder?“

„Aber sicher doch“, rief Jette, „ich habe ihm eine Menge zu erzählen. Will nur eben noch Lippenstift auftragen, Moment noch.“

Schnell rutschte sie unter dem Bett hervor und verschwand im Badezimmer. Die Telefonate mit dem großen freundlichen Mann waren die Höhepunkte des Tages, keine Frage, aber ohne Lippenstift hätte Jette niemals einem Videocall zugestimmt. Schnell trug sie den zu den Schuhen, die sie heute trug, passenden Lippenstift auf und huschte ins Wohnzimmer, wo die dicke freundliche Frau schon saß und auf sie wartete. Schnell hüpfte Jette ihr auf den Schoß, um alles gut sehen und hören zu können.

Die anderen Katzen kamen nach und nach auch wieder zurück ins Wohnzimmer. Leo stellte unauffällig den Laptop wieder auf den Tisch, bevor sie sich auch aufs Sofa setzte, um nichts zu verpassen. Lotti machte noch einen Abstecher in die Küche, um nachzuschauen, ob schon welche von den bestellten Snacks geliefert worden waren. Jehan stand in der Gegend rum und überlegte, wohin er gewollt hatte, als er losgegangen war.

Dann klingelte endlich das Telefon. Die dicke freundliche Frau nahm das Gespräch an, auf dem Display wurde der große freundliche Mann sichtbar und Jette schrie: „Hallo! Hallo! Da bist du ja endlich! Es ist toll hier, aber wir vermissen dich schrecklich. Du musst bald kommen, hörst du?“

Fortsetzung folgt.

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