Noch eine Woche bis Heiligabend und ich kann mich noch immer nicht entscheiden, ob ich mich auf Weihnachten freue, ob ich von Weihnachten total gestresst bin oder ob ich Weihnachten am liebsten ausfallen lassen würde. Ein bisschen von allem vermutlich, wobei nach einer Nach-Feierabend-Shopping-Runde vermutlich das Gefühl, gestresst zu sein, dominiert.
Wie war das noch damals, als ich die Adventszeit schön und besinnlich und anregend fand? Und vor allem: Wann war das? Gab es damals noch keine überfüllten Weihnachtsmärkte an jeder Straßenecke, gleichgeschaltete und verblödungsfördernde Musikuntermalung aus jedem Lautsprecher, wegen obskurer Weihnachtsparaden umgeleitete Busse, den Geruch von erbrochenem Glühwein oder fettigen Kartoffelpuffern und hamsterkaufenden Menschenmassen allüberall?
Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, es muss also lange her sein. Mindestens ein Jahr. Eher aber hundert Jahre. Es war eine Zeit, in der die Geschäfte abends um halb sieben schlossen, man also bis dahin alle benötigten Geschenke und Lebensmittel besorgt haben musste und hatte, so dass Zeit für beschauliche Klönrunden und zum Plätzchenbacken blieb. Und das, bevor um viertel nach acht das Fernsehprogramm begann. Falls es damals schon Jahresrückblicksendungen gab, dann traten darin sicherlich nicht Helene Fischer und Beate Zschäpe auf.
In diesen eigenartigen Zeiten hatte uns noch keiner was vom Internet erzählt und wir mussten die Geschenke für unsere Lieben tatsächlich in Ladengeschäften besorgen und selbst nach Hause tragen. Oder basteln. Was aber auch niemand wirklich wollte, vor allem nicht die Beschenkten. Trotzdem wagten es nur wenige ausgewählte Unerschrockene, z. B. ein Mobile aus Duplopapierschmetterlingen und Blumendraht zurückzuweisen („Kind, du bist jetzt 21. Hättest du mir nicht einen Schlips kaufen können?“)
Geldgeschenke waren die Ausnahme und kamen höchstens vor, wenn man auf etwas so Teures sparte, dass man es sich zum Geburtstag und zu Weihnachten zusammen wünschen musste. Geld als Geschenk von Eltern und anderen Verwandten an Kinder und Studenten wurde stillschweigend akzeptiert, aber besser, man sprach nicht zu viel darüber. Gutscheine wiederum wurden nur von Minderjährigen an Erziehungsberechtigte verschenkt und irgendeinem stillschweigenden Abkommen zufolge niemals eingelöst. Was im Interesse beider Seiten gewesen sein dürfte.
Wunschzettel konnte man schreiben, aber man musste nicht. Weil die Menschen, die einen beschenkten, also vor allem die lieben Eltern, das ganze Jahr über aufgepasst hatten und wussten, was man sich zu Weihnachten wünschte oder auch nicht. Für Notfälle wurde selbstverständlich trotzdem immer der Bon aufbewahrt („Kind, ich wusste ja, dass du gewachsen bist… aber so sehr? Und in die Breite statt in die Höhe!?“).
Weihnachten fand im Kreise der Familie statt, ob die Familie das nun wollte oder nicht. Gestritten wurde vorher und nachher, aber nicht zu Weihnachten. Bei Oma traf man auf Verwandtschaft, die man seit Ostern nicht gesehen und auch nicht vermisst hatte. Von Oma gab es seit Ewigkeiten und bis in alle Ewigkeit ein Marzipanbrot und eine Mark – leider starb sie vor der Einführung des Euro; mich hätte sehr interessiert, ob wir dann einen Euro oder 51 Cent bekommen hätten.
Der Familie entkommen konnten wir nicht, denn alle Menschen, die man sonst noch so kannte, saßen ja auch im Kreise der Familie fest und hatten Kontaktsperre. Bestenfalls ein kurzes Telefonat („Wir wollten nur Frohe Weihnachten wünschen!“) am Morgen des ersten Feiertages war gestattet. Ansonsten blieb man zu Hause und nahm drei bis vier warme Mahlzeiten täglich zu sich. Das ist nicht so grausam, wie es klingt, denn zwischendurch, wenn der kleine Hunger kam, hatte man ja noch den Bunten Teller zum Naschen. Immerhin durften wir an den Feiertagen relativ ungehindert fernsehen (das war normalerweise streng rationiert und kontrolliert), trotzdem habe ich „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ erst als Erwachsene gesehen.
Wenn wir gerade nicht alle miteinander zerstritten waren, haben wir auch gespielt. Brettspiele, Kartenspiele, Würfelspiele. Das hatte zwar seinen Höhepunkt längst überschritten, als mein kleiner Bruder irgendwann zu groß war, um sich „Miete! Miete! Miete!“ schreiend auf den Boden zu werfen (ich glaube, das war kurz nach der Geburt seiner Tochter), machte aber trotzdem noch Spaß. Hausmusik machten wir auch oft, weniger Weihnachtslieder, aber alles von „California dreaming“ bis „Hey Jude“ in der Fassung für Gitarre, Melodica und vierstimmige Familie. Musik vereinigte uns immer. Irgendwie.
Es gab Jahre, in denen ich mich mit meinem Vater nicht unterhalten konnte und er sich nicht mit mir. Wenn kein anderes Familienmitglied anwesend war und wir im selben Raum sein mussten, schwiegen wir. Aneinander vorbei, versteht sich, nicht uns gegenseitig an. Ziemlich gruselig. Aber ich war nun mal ein Scheißkind und ein ekelhafter Teenager; mein Vater war nicht der einzige, der sich von mir überfordert fühlte (aber mein Mathelehrer musste ja nicht mit mir Weihnachten feiern).
Als ich dann erstmal zu Hause ausgezogen war, wurde das besser. Mein Vater und ich hatten uns damals schon wieder so einigermaßen versöhnt und hatten es nun, wenn wir uns gegenseitig besuchten, eigentlich immer recht nett miteinander. So fiel es mir nicht schwer, von da an – insgesamt mit sehr wenigen Ausnahmen – jedes Jahr den Heiligen Abend mit meinen Eltern zu verbringen. Mal bei ihnen und mal bei mir, je nachdem, wer mehr Zeit und Lust zum Kochen hatte und bei wem das Wohnzimmer gerade aufgeräumter war.
Vor zwei Jahren hatte ich gerade kurz zuvor meinen Freund kennengelernt; er war mutig und traf meine Eltern am Heiligabend zum ersten Mal. In meiner Wohnung zwischen Spinatknödeln und Lebkuchen-Trifle. Das hätte durchaus auch schiefgehen können, aber zum Glück war man sich auf Anhieb sympathisch und der Abend verlief entspannt und vergnügt.
Im Jahr darauf, also letztes Jahr, war mein Vater dann schon krank und mein Freund und ich fuhren am 24. Dezember zu meinen Eltern. Gingen mit meiner Mutter in die Kirche, während mein Vater zu Hause wartete. Er steckte mitten in der Chemotherapie und alles war ziemlich anstrengend für ihn. Anschließend aßen wir zu viert und verbrachten einen gemütlichen Abend auf dem Sofa. Mein Vater las sogar eine selbstverfasste Geschichte vor, über Tapsi, den Stoffhund meiner Kindheit. (Wovon die Geschichte genau handelte, ist mir entfallen – ich wollte mich an diesem Abend nicht zu sehr anrühren lassen. Bin aber fest entschlossen, den Text irgendwann auf seinem Rechner zu finden.) Wir verbrachten diesen Abend durchaus in dem Bewusstsein, dass dies wohl das letzte Weihnachten mit meinem Vater sein würde, aber darüber gesprochen haben wir natürlich nicht. Dass man über den Tod auch ohne Angst, ihn dadurch herbeizureden, sprechen kann, haben wir erst später gelernt. Es war aber trotzdem ein sehr schöner Abend.
Tja, und nun steht das erste Weihnachten ohne meinen Vater vor der Tür. Ein bisschen merkwürdig denkt sich das schon. Mein Freund und ich werden mit meiner Mutter in die Kirche gehen, zu dem Pastor, der meinen Vater beerdigt hat. Anschließend werden wir essen und zusammen auf dem Sofa sitzen. Vermutlich wird es keine Hausmusik geben und keine selbstverfasste Geschichte. Aber vielleicht spielen wir ja was. Für den Fall, dass der Abend zu lang wird und nicht lustig. Oder wir reden. Über Weihnachten und die guten alten Zeiten. Über unsere Pläne für die nächste Zeit und über das, was wir im letzten Jahr erlebt haben. Das, was uns angestrengt und erschöpft, aber auch bereichert hat. Und wie wir uns darauf freuen, mal wieder in der Innenstadt aus dem Bus zu steigen und nicht auf einem Weihnachtsmarkt zu stehen. In einem Supermarkt auf der Suche nach Pfefferminztee einen Schritt zurück zu machen, ohne in einen Aufsteller mit Dominosteinen zu stolpern.
Vielleicht freue ich mich doch ein bisschen auf Weihnachten. Ich werde es mit den Menschen verbringen, die mir wichtig sind. Und mit Essen (falls jemand daran denkt, was einzukaufen, oder falls ein Lieferservice am Heiligabend was vorbeibringt. Es wird ein schöner Abend werden, da bin ich sicher. Und das glaube ich nicht nur, weil ich im Büro schon Glühwein getrunken habe und anschließend in der Kalkulation die kleine Differenz von 150.000 wiederfand, die heute Vormittag nach einer kleinen Aktualisierung noch unauffindbar zu sein schien. Weihnachten wird schön.
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Ich drücke Dich!
Danke für diesen wunderschönen Text.