Eigentlich hat das Sterben meines Vaters damit angefangen, dass meine Mutter einen Unfall hatte. Behaupte ich mal so. Zumindest ist das für mich der Punkt, von dem in meiner persönlichen Rückschau irgendwie alles im Zusammenhang mit der Krankheit und dem Tod meines Vaters steht.
Der Unfall meiner Mutter ereignete sich ziemlich genau vor zwei Jahren, an einem Dienstag im März. Ich war mit meinem Freund, den ich zu der Zeit seit fünf Monaten kannte, unterwegs gewesen, kam abends gegen halb zehn nach Hause und fand eine Nachricht meines Vaters auf dem AB vor. Meine Mutter habe einen Unfall gehabt und liege mit diversen Schlüsselbein-, Rippen- und Wirbelbrüchen auf der Intensivstation im Krankenhaus. Ich rief ihn natürlich sofort zurück und erfuhr, dass der Unfall sich am S-Bahnhof ereignet hatte, schon am Vormittag. Mein Vater war nicht dabei gewesen, fuhr aber natürlich sofort ins Krankenhaus – auf die Idee, meinem Bruder und mir Bescheid zu sagen, kam er allerdings erst am Abend. Er war ziemlich erledigt, konnte mir nicht viel erzählen, war aber auch der Meinung, es sei nun wirklich nicht nötig, dass ich meine Mutter am nächsten Tag besuche.
Was ich natürlich trotzdem tat – es fiel mir schwer, nicht direkt nach dem Telefonat mit meinem Vater ins Krankenhaus zu fahren. Ich fuhr dann am nächsten Tag in der Mittagspause hin. Meine Mutter lag noch immer auf Intensiv, stand ziemlich unter Drogen und sah total verbeult, aufgeschürft und blutunterlaufen aus. Sie war heilfroh, mich zu sehen, und redete totalen Unsinn. Dem Unsinn entnahm ich nach einer Weile, dass der Unfall weit spektakulärer war als mein Vater mir hatte erzählen mögen: Meine Mutter war nämlich – durch einen unbeabsichtigten Schritt ins Leere – vom Bahnsteig aufs Gleis gestürzt. Zum Glück war gerade keine S-Bahn im Landeanflug; die beiden jungen Männer, die beherzt ins Gleisbett sprangen, um meine Mutter, die wohl kurz komplett außer Gefecht und handlungsunfähig war, einzusammeln und wieder auf den Bahnsteig zu bugsieren, sagten hinterher, die elektronische Anzeige hätte „in 4 Minuten“ angezeigt. Und dann ging es auch schon mit Blaulicht ins Krankenhaus.
Auf die Frage, wie das denn habe passieren können, erklärte meine Mutter was von tiefstehender Sonne und noch tiefer ins Gesicht gezogenem Sonnenhut. Und der Konzentration auf irgendeine – wahrscheinlich gesundheits- oder konzentrationsfördernde – Übung mit der Hand in der Manteltasche. Erst später sagte sie mal in irgendeinem Nebensatz, dass sie in den Tagen vor dem Unfall sehr besorgt um meinen Vater gewesen sei, dem es nicht gut ging. Was sie sich aber auch nicht allzu sehr bewusst machen wollte, offenbar.
Mein Vater gehörte ja zu den Menschen, die eigentlich ihr Leben lang nie krank waren. Von Männergrippe hatte er, glaube ich, noch nie etwas gehört. Natürlich war er ab und zu erkältet, hustete in der kalten Jahreszeit auch viel rum, hätte sich aber – als er noch berufstätig war – nie deswegen krankschreiben lassen oder eine seiner zahlreichen Chorproben ausfallen lassen. Dementsprechend war er auch eigentlich nie beim Arzt. Nicht mal schlechte Zähne hatte er. Er sang in drei Chören, spielte jede Woche Tennis, programmierte Websites und produzierte Computergrafiken am laufenden Band. Mit mittlerweile 79 Jahren auf dem Buckel. Dass er ein bisschen langsamer wurde, noch mehr hustete und oft auch antriebslos wirkte, hatten wir eigentlich als Alterserscheinungen betrachtet, möglicherweise auch als Anzeichen einer Altersdepression. Aber für so neumodisch-esoterischen Kram hatte mein Vater nicht viel übrig, deswegen hatte die Depression eigentlich keine Chance beim ihm. Aber er wirkte sehr viel angestrengter als früher, bei allem, was er tat; das war sogar mir aufgefallen.
Tja. In den folgenden Wochen hatte mein Vater nicht viel Gelegenheit, sich über seine nachlassenden Kräfte Gedanken zu machen. Meine Mutter lag zwei Wochen lang im Krankenhaus und wurde dann für weitere drei Wochen Reha in die geriatrische Abteilung eines anderen Krankenhauses (noch weiter draußen vor der Stadt) überwiesen. Mein Vater besuchte sie jeden Tag, meistens mit öffentlichen Verkehrsmitteln, manchmal aber auch mit seinem alten Auto. Und das, obwohl er das Autofahren hasste. Und natürlich drehte sich alles um meine Mutter, die lange heftige Schmerzen hatte (wer sich mal eine Rippe gebrochen hat, weiß, wie schön das ist – sie hatte sieben gebrochene und unzählige angebrochene Rippen) und wahrlich keine geduldige Patientin war. Zwar stand relativ schnell fest, dass ihre Chancen, auch ohne Schlüsselbein-OP wieder ganz gesund zu werden, sehr gut waren, aber der Heilungsprozess war doch ein mühsamer und zog sich hin. Als sie zu Ostern endlich nach Hause durfte, ging es ihr noch lange nicht gut und sie brauchte bei fast jeder Tätigkeit Hilfe.
Natürlich hatte ich meine Mutter auch so oft wie möglich besucht, meinen fünfzigsten Geburtstag zum Beispiel feierte ich in der geriatrischen Abteilung des Vorstadtkrankenhauses. Mit Schokokuchen. Und war sehr froh, so alt geworden zu sein und noch beide Eltern zu haben. Und endlich wieder einen festen Freund, einen richtigen. Der meine Eltern zu Weihnachten kennengelernt hatte, sich zum Glück auf Anhieb bestens mit ihnen verstand und ohne Weiteres mit mir, wann immer es notwendig war, ins Krankenhaus oder später zu meinen Eltern nach Hause fuhr.
Ostern waren wir auch bei meinen Eltern. Meine Mutter war gerade frisch nach Hause entlassen worden und heilfroh, wenn auch nach wie vor sehr geschwächt und noch immer ziemlich verstört über ihren Unfall an sich. Sie gab sich alle Mühe, sich wieder mit ihrem normalen Leben anzufreunden, aber es war klar, dass sie das Erlebte noch in keiner Weise wirklich verarbeitet hatte. Was ich ihr deshalb zu diesem Zeitpunkt nicht erzählen konnte und wollte, war, dass mein Freund am Gründonnerstag – beim Einweihen des eben gekauften Sofas, das ich zum Geburtstag bekommen hatte – meinte, einen Knoten in meiner Brust ertastet zu haben.
Ich neige nicht zu Panikreaktionen, gelte als krisensicher und habe mich im Allgemeinen gut unter Kontrolle. Tatsache ist aber, dass ich das ganze, elendig lange Osterwochenende in einem dezenten Schockzustand verbrachte und darüber mit niemandem – außer natürlich meinem Freund – sprechen konnte. Am Dienstag stand ich dann bei meiner Frauenärztin auf der Matte, hatte im Geiste schon alle Möglichkeiten von „Das ist nur Kalk!“ bis zu „Oh. Das fühlt sich nicht gut an. Ich überweise Sie direkt ins Krankenhaus!“ durchgespielt und war ziemlich verblüfft, als sie nach einer Weile gründlichen Tastens sagte: „Ich finde hier nichts!“ Sie schickte mich trotzdem zur Mammografie, wo zu meiner großen Erleichterung auch nichts Bedrohliches gefunden wurde. „Sie haben da eine etwa drei Millimeter große Fettgeschwulst“, sagte der Arzt, „wenn Ihr Freund die getastet hat, ist er echt gut.“ Aber das hatte ich ja auch schon vorher gewusst. Ich war extrem erleichtert und in meiner Überzeugung, dass ich eigentlich nicht der Typ für Krebs bin, bestätigt. Trotzdem fiel es mir schwer, den Schrecken abzuschütteln (und die Tatsache, dass ich seitdem immer einen leichten Schreck durchlebe, wenn mein Freund sich meinen Brüsten nähert, spricht wohl auch für sich).
Nun ja. Wir waren also alle irgendwie wahnsinnig beschäftigt mit unseren Leben und dem Aufarbeiten verschiedener Schockzustände. Und mein Vater sagte ja nicht viel. Er wurde nur immer müder und schwächer. Irgendwann in diesen Tagen berichtete er, dass es ihm beim Tennisspielen schwarz vor den Augen geworden war. Immerhin. Danach dauerte es nur noch ungefähr zwei Wochen, bis meine Mutter ihn endlich dazu überredet hatte, einen Arzt aufzusuchen. Der ihn dann umgehend ins Krankenhaus schickte, wo weitere Untersuchungen ergaben, dass mein Vater unter fortgeschrittenem Darmkrebs litt, der bereits gestreut hatte. Die Metastasen wurden hauptsächlich in der Leber lokalisiert und sie hatten dort auch schon einen ziemlichen Schaden angerichtet. Die Ärzte empfahlen zunächst und dringend eine Operation am Dickdarm, wobei von Heilung schon nicht mehr die Rede war, eher von Schadensbegrenzung und Zeitgewinn. Natürlich, so sagten die Ärzte, müsse mein Vater sich nicht operieren lassen. Seine Prognose sei ohne die Operation allerdings denkbar schlecht. Mit der Operation nicht unbedingt viel besser, aber vielleicht ein bisschen. Das würde man während der Operation sehen und natürlich müsste er den Eingriff auch erst einmal überstehen.
Ich erfuhr diese Dinge damals fast immer ausschließlich über meine Mutter, die so gut wie möglich alles berichtete; sie begleitete meinen Vater zu allen Ärzten und Untersuchungen und durfte ihm auch immer ihre Meinung sagen. Mit meinem Bruder und mir wollte mein Vater nicht über seine Erkrankung sprechen, es war ihm alles zu viel und zu nervig. Außerdem hatte er keinerlei Übung darin, im Mittelpunkt der Familienereignisse zu stehen. Die Frage, ob er sich auf die Operation und die danach sicherlich anstehende weitere Therapie einlassen will und muss, hat er im Großen und Ganzen wohl mit sich selbst ausgemacht.
Ich war heilfroh, als meine Mutter mir mitteilte, dass mein Vater sich nach längerer Überlegung dazu entschlossen hatte, die Operation machen zu lassen. Ich hätte es durchaus für möglich gehalten, dass er sich dagegen entscheidet. Ich war entschlossen gewesen, seine Entscheidung auch in dem Fall zu respektieren… aber leicht wäre mir das nicht gefallen. Es ging eben plötzlich alles sehr schnell und ich wünschte mir einfach etwas mehr Zeit. Für meinen Vater, meine Mutter, mich – und unsere Familie als Ganzes.
So saßen wir dann an einem herrlich sonnigen Tag im Mai alle wie auf Kohlen und warteten darauf, vom Krankenhaus darüber informiert zu werden, wie die Operation meines Vaters verlaufen war.