Wie vorbei ist die Pandemie?

Wie viele „Endlich Wieder“-Beteuerungen braucht es eigentlich, um eine Pandemie für beendet zu erklären? Und wie viele, um sie wirklich zu beenden?

Fühlen Sie sich auch in den letzten Tagen und Wochen ein wenig umzingelt von Mitmenschen, die zwar im vergangenen Jahr auch überwiegend von Angst vor Ansteckung, elendigen NasenpimmlerInnen und Solidarität mit den Schwächeren der Gesellschaft gesprochen haben, nun aber offenbar von nichts anderem mehr sprechen können als von dem Cappuccino/Hugo/Eisbecher, den sie in der über Nacht wieder vorhandenen Außengastrononie konsumiert haben? Endlich wieder? Von der Urlaubsplanung und Reisen in ferne Länder? Endlich wieder? Vom Treffen mit Freunden, vielen Freunden, und mit wenig Abstand? Endlich wieder?

Wundern Sie sich auch, wie mühelos diese Mitmenschen sich nun wieder ins Leben stürzen? Endlich wieder? So als hätte man einen Schalter umgelegt und die immerhin weit über ein Jahr andauernde Zeit der Pandemie und der fast untragbaren Entbehrungen wäre von Jetzt auf Gleich ausradiert im Bewusstsein?

Alles auf Anfang? Endlich wieder?

Vielleicht bin ich zu alt, zu verkorkst und zu wenig flexibel, um das für wahrscheinlich zu halten? Vielleicht stehe ich innerlich mehr zu den Corona-Maßnahmen, als mir bisher bewusst war – weil sie meinen wahren Bedürfnissen entgegenkommen? Vielleicht habe ich zu viel Angst vor Freiheit, als dass ich mich über die Öffnungen und Lockerungen so richtig von Herzen freuen könnte?

Vielleicht finde ich einen Sommer ohne Massenveranstaltungen in Hamburg einfach viel schöner als mit? (Na gut, da ist was dran. Einiges.)

Aber sonst: Nein. So alt und unflexibel und verkorkst bin ich hoffentlich noch nicht, dass ich nicht mehr gerne in guter Gesellschaft an einem sonnigen Tag mit einem Kaltgetränk im Schatten mit Blick auf den See sitze, optional mit den Füßen im Wasser. Im Gegenteil, das ist für mich der Inbegriff von Sommer und etwas, wovon ich das ganze restliche Jahr zehre. Seit vielen Jahren lebe ich mitten in der Stadt und es ist für mich ganz normal, Menschen um mich zu haben. Unter normalen Umständen.

Mal davon abgesehen, dass ich noch nicht daran zu glauben vermag, dass die Pandemie wirklich vorbei ist, so ganz richtig vorbei, ganz unabhängig davon, wie blöd und fahrlässig wir uns in den nächsten Wochen und Monaten anstellen… Ich freue mich wahnsinnig darüber, dass die Neuinfektionszahlen nun endlich rückläufig sind, weniger Menschen ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation müssen und auch deutlich weniger Menschen an Covid-19 sterben. Das ist eine wunderbare Entwicklung, daran gibt es nichts kleinzureden.

Ob diese wunderbare Entwicklung unumkehrbar ist oder vielleicht doch fragiler als wir es gerne hätten, das kann ich, deren Kenntnisse auf den Gebieten Virologie und Epidemiologie sehr gering sind, nun wirklich nicht beurteilen. Jedoch habe ich ein gewisses Vertrauen in meine eigene Medienkompetenz und traue mir durchaus zu, Trends in der allgemeinen und speziellen Berichterstattung zu erkennen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die „öffentliche Meinung“ zu begreifen. Und eventuell auch zu hinterfragen.

Und so verstehe ich, dass es derzeit ganz klar eine politische Entscheidung ist, die Pandemie für beendet zu erklären, und weit weniger eine wissenschaftsbasierte. Ja, auch die Wissenschaft ist, was zumindest den Verlauf des Sommers angeht, mehr oder weniger verhalten optimistisch. Das kleine „Aber… wir wissen noch nicht, wie es dann im Herbst und im Winter sein wird – Sie wissen ja, die Delta-Variante und überhaupt“ schwingt bei ihnen aber doch sehr deutlich mit. Wenn man es nur hören will.

So weit denkt die Politik angesichts der aktuellen dringenden Sachzwänge anscheinend nicht. Nicht, weil sie es nicht könnte, sondern weil sie es nicht wagt. Natürlich könnte auch der Hamburger Bürgermeister statt „Die Pandemie ist beendet“ sagen: „Wir glauben, dass die Pandemie jetzt eine Sommerpause macht, und hoffen, dass sie uns im Herbst nicht noch einmal mit voller Breitseite erwischt“. Aber das tut er nicht. Möglicherweise, weil Teile irgendwelcher Antworten die Bevölkerung verunsichern könnten. Und dann würden diese Teile der Bevölkerung vielleicht die schönen Angebote, die ihnen seit einigen Tagen von Gastronomie, Hotellerie, Kultur und Geschäftswelt wieder gemacht werden können, gar nicht so spontan und unkritisch wahrnehmen.

Stattdessen werden wir ermutigt, all die improvisierten Angebote zum „Endlich wieder!“ doch bitte voller Freude anzunehmen. Ohne uns vor Restviren zu fürchten. Zugegeben, eine Inzidenz von 20 (auf 100.000 Menschen) ist so viel besser als eine von 200. Und trotzdem: Was nützt das den 16 Menschen, die von den 20 Neuinfizierten vielleicht noch angesteckt werden, bevor diese auffällig und aus dem Verkehr gezogen werden?

Die freundlichen Verweise auf die Eigenverantwortung der Bevölkerung finde ich in diesem Zusammenhang eher unangebracht. „Halten Sie doch Abstand – wenn man Sie lässt. Tragen Sie doch draußen, wenn’s eng wird, gerne freiwillig eine Maske – falls es Ihnen genügt, dass Sie dann die einzige maskentragende Person im knallvollen Park sind.“

Es ist ja gar nicht so, dass ich so wahnsinnig gerne draußen eine Maske trage. Zwar habe ich inzwischen gelernt, dahinter deutlich zu sprechen und Mimik und Gestik auf „groß und unmissverständlich“ umzustellen, aber das ändert nichts daran, dass mir darunter warm wird, meine Brille beschlägt, meine Nase juckt und ich nicht weiß, wie ich mal schnell was trinken soll. Trotzdem trage ich das Ding, sobald es mir draußen zu eng wird. Im Seniorenheim und im Hospiz natürlich sowieso. Das versteht sich doch wohl von selbst.

Bei der Weiterbildung Trauerbegleitung aber, deren erstes Modul ja in dieser Woche nun endlich stattfand, sitzen wir wunderbarerweise mit 16 Teilnehmerinnen und zwei Referentinnen in einem großen Saal und haben viel Platz zwischen den Stühlen. Das heißt, dass wir – natürlich entweder durchgeimpft oder mit tagesaktuellem Test – auf unseren Sitzplätzen die Maske abnehmen dürfen. Nur, wenn wir sitzen; sobald wir uns im Raum bewegen, muss die Maske wieder drauf. Und lüften müssen wir auch – was bei dem herrlichen Sommerwetter diese Woche in Hamburg nun wirklich keine Strafe war.

Trotzdem hatte ich zunächst etwas Angst. Erstmal: Mit 17 anderen Personen in einem Raum! AAAAH. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das zum letzten Mal erlebt habe. Und dann ohne die schützende Maske? Würde sich das nicht vollkommen falsch, leichtsinnig und fahrlässig anfühlen?

Erstaunlicherweise war es nicht so. Im Gegenteil, es war wunderschön. 17 Personen, von denen ich vorher keine kannte. Wie lange hätte ich mit Maske gebraucht, um sie alle auseinanderzuhalten? Wahrscheinlich ewig.

Und wie wunderschön es war, einfach mal wieder ganz normal in einen Raum zu sprechen. Wie ausgewogen und wohlklingend meine Stimme sich doch anhört, wenn ich mal nicht besonders deutlich artikuliere oder lauter als normal spreche. Hach.

In den Mittagspausen allerdings zog es mich noch nicht in die umliegenden Außengastronomien. Stattdessen begab ich mich mit meinem mitgebrachten Essen in die gegenüberliegende Grünanlage. Dort waren zwar auch zahlreiche Menschen, aber ich hatte eine Bank an einem Seitenweg für mich alleine. Herrlich – und wahrscheinlich hätte ich das auch vor Corona so gemacht, weil ich an solchen Tagen des intensiven Austausches eine Stunde für mich zwischendurch sehr wichtig finde.

Jedenfalls: Ich freue mich über die rückläufigen Zahlen. Sehr sogar. Ich bin auch sehr dafür, Einschränkungen und Maßnahmen angesichts dieser Zahlen auf ihre Notwendigkeit und Angemessenheit zu überprüfen. Und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Zwei Einwände aber bleiben.

Erstens: Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit sagen, dass die Pandemie vorbei ist. Niemand.

Zweitens: Ich vermag nicht zu glauben, dass die vergangenen 15 Corona-Monate keine Spuren hinterlassen bei uns und in uns hinterlassen haben. Wir werden die Folgen noch lange mit uns tragen, auf allen Ebenen unseres privaten und öffentlichen Lebens. Daran kann auch ein trotziges „Endlich wieder!“ beim ersten Cappuccino auf der Terrasse des Italienischen Restaurants an der Ecke nichts ändern. Wir sollten weiterhin die nötigen Fragen stellen und die möglichst vollständigen Antworten aushalten. Unabhängig davon, ob sie uns verunsichern.

2 Kommentare

  1. OMG das sind ja beinahe genau meine Gedanken. Auch ich werde weiterhin vorsichtig und auf Abstand bedacht sein. Zumal noch nicht mal erstgeimpft. Ich muss muss noch warten, und durchhalten auch wenn es nicht immer einfach ist. lg

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.