„Zu dir oder zu mir?“
Sie alle kennen diese wichtige, oft kriegsentscheidende Frage. Stellt sie sich bei Ihnen auch immer zum Wochenende?
Seit einigen Monaten leben mein Freund und ich ja in einer Fernbeziehung, er (mit Katze 3 und Katze 4 (Kater 1)) neuerdings in Bremen und ich (mit Katze 1 und Katze 2) nach wie vor in Hamburg.
Eigentlich müsste die wichtigste Frage der Woche also lauten: „Zu Katze 3 und Katze 4 (Kater 1) oder zu Katze 1 und Katze 2?“
An manchen Wochenenden regelt sich die Frage von alleine; ich muss ja alle zwei Wochen am Samstagvormittag noch ins Büro und gelegentlich habe ich auch für den Rest des Wochenendes noch Telefonbereitschaft. Obwohl die Verlockung groß ist, gerade diese Wochenenden in Bremen zu verbringen, kommt mein Freund in diesen Fällen meistens zu mir, meistens dann von Samstagnachmittag bis Sonntagabend. Seine Katzen überstehen ja eine Nacht ohne menschliche Aufsicht unbeschadet und ohne zu verhungern – im krassen Gegensatz zu Katze 1 und Katze 2, die sofort ausgehungert zu Boden sinken, sobald sie mich mit mehr Gepäck als einer mittelgroßen Handtasche die Wohnung verlassen sehen.
An meinen arbeitsfreien Wochenenden fahre ich sehr gerne nach Bremen, im Allgemeinen aber nur am Sonntag. Erstens wegen der Katzen und zweitens, weil – zum Beispiel wegen der Auflösung der Wohnung meiner Mutter – auch in Hamburg immer noch viel zu tun ist und ich am Samstag meistens noch nicht wegfahren kann.
Mein Freund hat ja ein Auto und kennt Bahn- und Busfahren nur vom Hörensagen. Ich hingegen nutze gerne öffentliche Verkehrsmittel und finde die Fahrten – sofern sie planmäßig verlaufen und es nicht zu voll ist – eigentlich ganz entspannend. Nach Bremen dauert es nicht so sehr lang und bezahlbar sind die Fahrten auch.
Das Beste an der neuen Wohnung meines Freundes ist, dass sie im Bremer Stadtteil Oberneuland liegt, das ist eigentlich kein Stadtteil, sondern eine Ortschaft. Und sie hat eine eigene Metronomhaltestelle, wo regelmäßig Metronömer (oder wie die heißen) aus und nach Hamburg vorbeikommen.
Eigentlich hat Oberneuland sogar zwei Metronomhaltestellen bzw. zwei halbe. Die Bahnsteige für „nach Bremen“ und „nach Hamburg“ liegen etwa 100 Meter voneinander entfernt, sind in der Realität aber durch die Gleisanlage, eine lebensgefährliche, supersteile, rutschige Holzbrücke, eine extrem dehnbare Wanderbaustelle und 300 Meter Umweg voneinander getrennt. Noch besser: Mit dem Auto kann man nur die eine anfahren, vorausgesetzt, man hat keine Hemmungen irgendeiner Art. Die andere ist durch einen vielleicht 200 Meter langen Fußweg mit der Schnellstraße verbunden, auf der man eigentlich nicht halten geschweige denn parken kann. Von der einen Haltestelle zur anderen braucht man mit dem Auto ungefähr zehn Minuten.
Als ich, am Ende eines langen Umzugstages, zum ersten Mal abends von Oberneuland nach Hamburg zurückfahren wollte, fuhren mein Freund und ich nichtsahnend irgendeinem Hinweisschild nach und landeten natürlich auf dem Bahnsteig Richtung Bremen. Acht Minuten vor der Abfahrt des Zuges und noch ohne gültigen Fahrschein. Es war Januar, abends, und somit dunkel. Es dauerte eine Weile, bis ich am Horizont den anderen Bahnsteig ausmachen konnte. Zwischen dem einsamen Bahnsteig und uns lag fett, breit und unübersichtlich eine Baustelle, aus der irgendwo eine dieser ekelhaften steilen Holzbrücken ragte, die man gelegentlich auf Bahnhofsbaustellen trifft. Diese Brücken sind nicht nur das krasse Gegenteil von barrierefrei, sie sind auch für jeden anderen Menschen, der keine Bergsteigerausrüstung dabei hat, eine echte Herausforderung, jedenfalls im Winter.
Ich kriegte erst einen Schreikrampf, dann ein paar ermutigende Fußtritte von meinem Freund, dann tatsächlich in letzter Sekunde den Zug und drinnen sogar noch eine Fahrkarte zum Normalpreis, obwohl das im Metronom eigentlich so nicht vorgesehen ist. Ich röchelte allerdings noch, als wir 85 Minuten später in Hamburg ankamen.
Das Allerbeste ist, dass man bei Google Maps nicht sehen kann, wo die Bahnsteige in Oberneuland wirklich sind, und noch viel weniger, wie man sie erreicht. Bevor ich das nächste Mal nach Bremen fuhr, schickte ich also meinen Freund auf Erkundungstour. Von der er mit mehreren „Vielleichts“ und „Ich bin nicht ganz sicher“ zurückkehrte. Inzwischen kennen wir aber die offiziellen und auch die nicht so offiziellen Wege (und Parkmöglichkeiten) und ich buche meine Fahrkarten per App. Sogar einen Schienenersatzverkehr habe ich schon erfolgreich vermieden.
Seit wir uns in Oberneuland besser auskennen, finde ich die Fahrt von dort wesentlich entspannter als von Bremen-Hauptbahnhof. Selbst am Sonntagabend geht es sehr beschaulich zu und der Metronom nach Hamburg ist selten überfüllt.
Von Hamburg nach Bremen bin ich bisher am Sonntagmorgen immer mit dem Flixbus gefahren, das ist natürlich etwas günstiger als mit der Bahn und geht auch ganz gut. Allerdings hat sich die offizielle Fahrzeit wegen der diversen Autobahnbaustellen gerade um eine Viertelstunde verlängert und deswegen probiere ich heute nun zum ersten Mal eine morgendliche Metronomfahrt von Hamburg nach Oberneuland aus. Mal sehen, ob mein Freund mich auf der richtigen Seite abholen kommt.
Außer den zwei halben Bahnhöfen gibt es in Oberneuland noch eine Kirche, eine Handvoll Restaurants, einen winzigen Edeka, einen Badesee, haufenweise Parks im englischen Stil, Herrenhäuser und historische Bauernhöfe, vornehme Villen, ein paar normale Häuser und ungefähr 700 Einwohner pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Hamburg St. Pauli, wo mein Freund vorher wohnte, sind es knapp 10.000 Einwohner, in Hamburg-Neustadt, wo ich wohne, sogar 12.000 Einwohner pro Quadratkilometer (eigentlich erstaunlich, dass ich ein Badezimmer für mich allein habe). Ansonsten: Grün, wohin das Auge schweift. Hunde, Katzen, Pferde. Ein bisschen wie im Urlaub, nur ohne Touristen.
Mein Freund fühlt sich in seiner neuen Heimat sehr wohl und auch Katze 3 und Katze 4 (Kater 1) machen einen sehr entspannten Eindruck. Alles ist sehr viel entspannter als auf St. Pauli, man könnte es fast entschleunigt nennen. Er hat ja ein Auto (ohne das ich in dieser Gegend aufgeschmissen wäre), erledigt aber die meisten Wege mit dem Fahrrad. Wenn er morgens laufen geht, ist er nach kürzester Zeit wirklich draußen in der Natur, Wümme-Wiesen genannt, unterwegs. Letzten Sonntag haben wir nachmittags mindestens zwei Stunden auf seinem Balkon gesessen und geglotzt, ohne dass ein einziger Mensch vorbeigekommen wäre.
Unsere Verhandlungen darüber, was wir am Wochenende machen und wo, laufen eigentlich immer sehr entspannt ab. Wir sehen uns zwar etwas seltener als vorher, aber dafür genießen wir die gemeinsame Zeit vielleicht etwas intensiver. Soweit also alles gut.
Natürlich, manchmal streifen mich Gedanken wie: „Und was ist, wenn es mal einem von uns nicht so gut geht? Wenn einer von uns krank wird, gar ins Krankenhaus muss? Wenn mit den Katzen mal was ist und wir nicht so einfach den ganzen Tag lang oder noch länger weg sein können oder mögen?“
Wenn ich manchmal abends ein bisschen später, aber nicht wirklich spät nach Hause komme und meinen Freund nicht erreichen kann, liegt das ganz einfach daran, dass er schon im Bett ist. Er steht morgens viel früher auf als ich und – im Gegensatz zu mir – nimmt sein Smartphone nicht mit ins Bett. Ich weiß das natürlich, es ist schon häufiger vorgekommen – und trotzdem macht es mich so, mit 117 Kilometern zwischen uns, noch etwas nervöser als früher, bis zum nächsten Morgen warten zu müssen, bevor ich von ihm höre. Erste Versuche, an diesen Abenden Katze 3 zum Skypen zu überreden, haben leider bisher noch nicht zum Erfolg geführt, aber wir arbeiten weiter daran.
Alles in allem bin ich mit unserer Fernbeziehung bisher ziemlich zufrieden. Außerdem freue ich mich sehr sehr sehr darauf, dass wir in diesem Jahr mal beide gleichzeitig Urlaub haben werden. Das hat in den letzten Jahren immer nur tageweise funktioniert (und in diesen Tagen gab es immer irgendwelche Umzüge, Renovierungen und andere Familienangelegenheiten). Dieses Jahr aber sind vier gemeinsame Urlaubswochen geplant. Vielleicht verreisen wir sogar mal kurz, aber auch falls nicht, wird es in Hamburg, Oberneuland, auf der Autobahn und im Metronom sicher schön. Da bin ich mir ganz sicher. Und eines Tages können wir das „Zu dir oder zu mir?“ ja vielleicht doch noch durch „Zu uns!“ ersetzen. Hoffentlich.