Zum ersten Todestag: Lieber Papa.

Lieber Papa,

nun ist es genau ein Jahr her, dass du gestorben bist (ob schon ein Jahr oder erst ein Jahr, das lässt sich schwer sagen). Im Moment denke ich wieder viel an dich und da ich dich ja nicht mehr anrufen kann und nicht weiß, wohin ich dir einen Brief schicken sollte, stelle ich diesen eben in mein Blog. Wenn du ihn dann nicht liest, dann lesen ihn dort immerhin ein paar andere Menschen. Wichtiger (für mich) ist ohnehin, dass ich ihn schreibe, denke ich.

Es hat sich vieles verändert, seit du nicht mehr mit uns lebst. Einiges davon war abzusehen, anderes kam eher überraschend. Wir alle haben ja unterschiedliche Wege, mit deinem Tod umzugehen, und manchmal sind unsere Bewältigungsstrategien nicht so ohne Weiteres miteinander zu vereinbaren. Aber das ist eigentlich keine Überraschung, oder?

Schließlich sind wir ja schon mit deiner Krankheit und deinem Sterben ganz unterschiedlich umgegangen, mal mehr und mal weniger überlegt und vernünftig. Aber du warst für fast alles dankbar – nachdem erstmal klar war, dass du sterben wirst und niemand mehr gutschigutschimäßig das Gegenteil behaupten musste.

Eine große Überraschung war zum Beispiel, dass wir das Haus verkauft haben, und so schnell. Das war ja eigentlich nicht geplant; als du noch da warst, konnte Mama sich überhaupt nicht vorstellen, aus eurem gemeinsamen Haus auszuziehen. Sie wollte sich mit der Frage eigentlich gar nicht auseinandersetzen und hat das Nachdenken darüber immer auf viel später verschoben. Bis sie plötzlich ankam und sagte: Ich bekomme eine tolle Wohnung gleich nebenan, ich ziehe aus dem Haus aus. Sofort.

Das war im Frühjahr. Wir hatten zu dem Zeitpunkt schon seit Wochen und Monaten im Haus aufgeräumt und aussortiert, viele alte Sachen (deine Sachen!) weggegeben und diverse Kartons für Mama zur Durchsicht vorbereitet, weil wir nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden konnten und wollten, ob sie aufbewahrt werden sollen oder nicht.

Meine Güte, hattest du viel Kram angesammelt. Alles systematisch sortiert und abgelegt, viel ordentlicher als ich es jemals könnte – aber was wolltest du mit den Computerprospekten von 1998? Oder mit Wanderführern und Landkarten aus den 70-er Jahren?

Ich war also überhaupt nicht begeistert, als Mama plötzlich umziehen wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie diesen Umzug hinkriegt und uns nicht alle in den Wahnsinn treibt. Leider konnte ich mich in diesem Punkt nicht durchsetzen… und wer bin ich, dass ich meinem Freund und meinem Bruder etwas verbiete? Na ja, im Endeffekt sitzt Mama jetzt in ihrer neuen Wohnung, die sicher auch ganz schön und viel praktischer als das Haus ist, aber die Jungs und ich, wir brauchen alle Urlaub. Von ihr und auch generell.

Du hättest das auch nicht ausgehalten, das kann ich dir versichern. Du hättest, ebenso wie wir, mehrmals täglich die Nerven verloren und vermutlich auch noch rumgebrüllt. Was wir nicht getan haben. Jedenfalls fast nicht.

Immerhin haben wir das Haus supergut verkauft und im Oktober, wenn der Kaufpreis überwiesen wird, sind wir dann reich. Das wird auch Zeit, denn alle Rücklagen, die ihr zu deinen Lebzeiten noch hattet, sind nun verbraucht. Erstaunlich, wie schnell und leicht das geht.

Weißt du eigentlich, was eine Beerdigung kostet? Unglaublich, wirklich. Und dabei haben wir eigentlich nicht unnötig Geld ausgegeben. Ein schlichter Sarg, der Grabstein ein Schnäppchen (und trotzdem der schönste, der zu haben war – ich bin sicher, dass du den auch ausgesucht hättest!) und kein großes Brimborium. Trotzdem waren wir alles in allem im fünfstelligen Bereich!

Der Umzug hat auch viel Geld gekostet, auch wenn wir Familienmitglieder natürlich kein Geld für unsere Hilfe haben wollten.

Dann musste im Sommer endlich mein Badezimmer renoviert werden. Die Hausverwaltung hatte, wie ich jetzt erst erfuhr, ja schon seit Jahren versucht, dich dazu zu bringen, etwas dagegen zu tun, dass wir ständig einen Wasserschaden in dem Laden unter uns verursachen. Aber da warst du halt stur oder, genau genommen, ein Arschloch. Dass du mir damit auch viel Stress verursacht hast, war dir wohl nicht so klar. Ich jedenfalls finde, dass die Renovierungskosten ein nicht zu hoher Preis dafür sind, dass ich nun endlich wieder mit gutem Gewissen meine Dusche benutzen kann.

Darüber würdest du dich ja sicher auch freuen, oder?

Ansonsten habe ich ganz gut die Kurve gekriegt, gehe seit Mai wieder regelmäßig zum Sport und habe sogar ein bisschen abgenommen. Noch nicht so viel wie nötig, aber immerhin habe ich das Gefühl, dass ich mein Essverhalten wieder halbwegs im Griff habe. Und langsames Abnehmen soll ja sowieso gesünder sein.

Meine Güte, du hattest so sehr abgenommen. Wie dünn du zum Schluss warst. Im Park dachte ich wirklich immer, dass jetzt gleich die Eichhörnchen mit Nüsschen kommen, um dich zu füttern. Wir hätten das mit der Specktransplantation doch eingehender erforschen sollen; ich hätte dir gerne einen Schwimmring gespendet und das wäre eine Win-Win-Geschichte geworden.

Meine Sommerferien waren auch in diesem Jahr – eben wegen Mamas Umzug – nicht so erholsam, wie ich gehofft hatte. Und gebraucht hätte. Aber besser als nichts. Und ich habe ja auch längst nicht so viel für den Umzug getan wie die beiden Jungs. Trotzdem musste ich mir natürlich täglich anhören, was zwischen Mama und ihrem Lieblingsschwiegersohn nun wieder schief gelaufen ist. Manchmal nacheinander oder sogar abwechselnd von beiden Seiten. Das war nicht gerade Erholung pur.

Was jetzt nach dem Umzug echt noch einmal schwierig war, war die Ausstellung deiner Grafiken. Es ist doch zu und zu schön, wohlmeinende Freunde zu haben, die – kaum dass der Künstler tot ist und sich nicht mehr wehren kann – eine Ausstellung für ihn organisieren wollen. Und die Mama dazu überreden, obwohl sie mit dieser ganzen Geschichte geringfügig überfordert war – und keineswegs sicher, dass dieses Vorhaben dir wirklich gefallen hätte.

Ganz sicher nicht gefallen hätte dir die Ausstellung selbst mit den nackten Bildern, ausgedruckt auf normalem Kopierpapier und am unteren Rand oft mit einem Filzstift nachgebessert, auf Spanplatten-Kieferngerüst (mit Preisaufklebern drauf). Ganz ehrlich: Ich habe schon Supermarkt-Pinnwände gesehen, die ansprechender aussahen. Ob dir meine zickig-kritische Rede zur Ausstellungseröffnung gefallen hätte, weiß ich nicht so genau. Wahrscheinlich wären dir meine hinterhältigen Angriffe gegen die Ausstellunginitiatoren etwas unangenehm gewesen… aber heimlich hättest du dich sicher darüber gefreut, dass jemand sich für dich und deine Belange ein bisschen unbeliebt macht.

Leider habe ich dich bei dieser Veranstaltung nicht in der Nähe gespürt. Sicher hattest du an diesem schönen Spätsommerabend etwas anderes vor, zum Beispiel ein großes Chorkonzert auf deiner Wolke. Du hast hier unten aber auch nichts versäumt.

Ich vermisse dich, weißt du? Nicht, weil ich dich brauchen würde. Ich bin ziemlich erwachsen und kann nicht nur für mich selbst sorgen, sondern auch ein bisschen für andere. Ich vermisse dich, weil ich gerne noch mal mit dir sprechen würde. Über den Trojaner, den ich letztes Wochenende von meiner Festplatte kratzen musste, vielleicht. Oder über die mecklenburgische Ostseeküste, an der wir das Wochenende verbringen und auf die ich mich immer so freue. Ich würde auch gerne nochmal mit dir Eis essen, selbst wenn ich dich dafür im Rollstuhl über die befahrene Kreuzung mit den fiesen Ampelphasen schieben müsste. Und mich wundern, wie schnell du immer mit deinem Eis fertig bist, während ich mich noch stundenlang einsaue.

Außerdem würde ich gerne noch einmal Danke sagen. Dafür dass ich der Mensch werden durfte, der ich bin – auch wenn du früher manchmal große Sorge hattest, dass ich so auf dieser Welt niemals auch nur annähernd zurechtkommen würde. Aber das war ja schon lange Vergangenheit und du hattest zum Schluss immer Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten. Dabei wusste ich, als es dann wirklich auf das Ende zuging, ja auch nicht, was passiert und was am besten zu tun ist, und konnte nur meiner Intuition folgen. Und du hattest nie einen Zweifel, dass wir das schon hinkriegen würden (und das haben wir dann ja auch). Ich konnte dich in dem Bewusstsein gehen lassen, dass wir alles gesagt haben und dass nichts mehr zwischen uns steht. Und du konntest mich zurücklassen, weil du wusstest, dass ich auch ohne meinen Vater klarkommen würde. Dafür bin ich dankbar, wirklich.

Vielleicht wartest du  ja eines Tages, wenn es für mich so weit ist, hier den Löffel nicht ab- sondern weiterzugeben, auf der anderen Seite der Brücke (oder am Ende des Tunnels oder hinter dem grell aufgeblendeten Scheinwerfer) auf mich. Damit ich voll Vertrauen und ohne Angst hinübergehen kann. Aber bis dahin habe ich hoffentlich noch viel Zeit in dieser Welt. Ich lebe nämlich ausgesprochen gern und ich weiß, dass du mir von oben zuschaust und dich darüber freust. Also, meistens. Manchmal schlägst du dir natürlich auch verzweifelt die Hand vor die Augen und rufst: „Schon wieder haut sie eine Schraube mit dem Hammer in die Wand! Von mir hat sie das nicht!“

Also, Papilein, das war es für heute. Ich denke an dich. An diesem Tag und auch sonst sehr oft. Und das soll auch so bleiben.

Sei gegrüßt, von Herzen
und von deiner Tochter

 

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