Back to the Roots: ABBA ist wieder da.

Als ich vor ein paar Tagen las, dass die Veröffentlichung der beiden neuen ABBA-Songs, von denen in Fach- und anderen Kreisen ja nun schon seit mindestens drei Jahren gemunkelt wurde, nun tatsächlich unmittelbar bevorstehen sollte, konnte und wollte ich das fast nicht glauben. So oft war von diesen Songs die Rede gewesen und davon, dass sie nun doch wieder niemand hatte hören dürfen, dass ich schon fast dachte: Dann soll das vielleicht auch so sein. Lasst uns ABBA in Erinnerung behalten, so wie sie damals waren.

ABBA, so wie sie damals waren… Ich bin 1976 mit „Fernando“ eingestiegen, das war meine erste nicht-deutschsprachige Single, und mit „Arrival“, meinem ersten englischsprachigen Plattenalbum. Ich war zwölf und wusste weder, wie man „Arrival“ ausspricht, noch was es bedeutet (da der gleichnamige Titel ein Instrumentalstück ist, wurde der Name des Liedes halt nicht gesungen). Ich liebte dieses Album heiß und innig, es begründete eine Zeit, in der ich jeden Nachmittag im Wohnzimmer unseres Reihenhauses diese Platte spielte, lautstark und meist mehrmals hintereinander (ohne die ganzen Bonustracks, die es später auf den CDs dazu gab, war es ja nur 39 Minuten lang), während ich inbrünstig in meine Haarbürste sang.

Man könnte sagen, dass Agnetha und Anni-Frid meine ersten Gesangslehrerinnen waren. Ich glaube nicht, dass ich vorher schon mal (bewusst) Sängerinnen gehört hatte, die so phänomenal gut singen UND gleichzeitig wirklich alle Inhalte und Emotionen ihrer Songs ohne Reibungsverluste transportieren konnten. Zumindest in ihren Studioaufnahmen – Live-Mitschnitte kannte ich zu der Zeit noch gar nicht von ihnen. Das Geheimnis guten, bedeutungsvollen Singens – dass nämlich alle Technik, alles virtuose Können, alle Lust am Musizieren nur die Voraussetzung sind und dass es nur darum geht, Musik und Text, Klang und Sinn und Gefühl an die Zuhörer zu vermitteln – das verkörpern diese beiden Künstlerinnen wie nur wenige andere.

Nicht dass ich das damals schon so hätte analysieren können. Schließlich klangen die ABBA-Songs ja immer so einfach, schlicht, mitsingbar, vielleicht sogar ein bisschen zufällig gelegentlich (es gibt da ja ein paar Beispiele von Stücken, bei denen Benny und Björn die Musik, die Melodien, Harmonien, Effekte und die Struktur des Songs bereits hatten, aber noch keinen Text. Und dann probierten sie aus, manchmal völlig unterschiedliche Geschichten – beide ließen sich in diesem Song erzählen, ohne Weiteres). Auch wer ein Stück singen sollte, Agnetha, Anni-Frid oder gelegentlich sogar die Männer, stand nicht immer von Anfang an fest.

In der Rückschau aber lässt sich eindeutig sagen, dass diese einfach aussehenden und eventuell beliebig scheinenden Entscheidungen sich in so gut wie allen Fällen als richtig erwiesen haben. Björn und Benny, die ja im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte, beginnend, soweit ich mich erinnere, mit der Entstehung des Musicals „Mamma Mia“, immer wieder auch Auskunft gegeben haben über Entstehungsprozesse, berichten von ganz, ganz wenigen Entscheidungen, die sie heute vielleicht anders treffen würden.

Die Songs wirkten anstrengungslos und ebenso der Gesang von Anni-Frid und Agnetha. Völlig unterschiedliche Stimmen und Sängerinnen, aber in der Kombination einfach unschlagbar.

Agnetha, Sopran, mit einer klaren, weichen und trotzdem sehr fokussierten, tragfähigen Stimme und der Fähigkeit, auch richtig hohe Töne zu singen (oder zu belten), ohne dabei plötzlich wie eine Opernsängerin zu klingen. Was damit zu tun hat, dass man bei ihr keinen Registerwechsel beim Übergang von der mittleren in die obere Stimmlage hört.

Anni-Frid, Mezzosopran, hatte in ihren Hochzeiten möglicherweise einen noch größeren Stimmumfang, bei ihren hohen Tönen hört man aber die klassische Gesangsausbildung, die gut ausgebildete Kopfstimme und ganz oben sogar ein Pfeifregister, das eigentlich eher für leichte Soprane typisch ist. Diese obere Lage hat sie, soweit ich weiß, bei ABBA nicht (mehr) benutzt, es gibt aber frühe Soloaufnahmen, in denen sie spielerisch Töne erreicht, die für einen Mezzosopran normalerweise komplett „out of reach“ liegen. In der ABBA-Konstellation wurde sie aber natürlich für ihre samtig-dunkle Stimme mit einer unglaublichen Wärme und ganz viel Seele berühmt.

Zusammen klangen die beiden Damen einfach unfassbar gut. In manchen Songs lassen sich die beiden Einzelstimmen, auch wenn sie unisono singen, gut voneinander unterscheiden beim Hören, aber in manchen Stücken ist das unglaublich schwer. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Björn und Benny schon damals schamlos alle zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten genutzt haben und die Stimmen verdoppelt, getauscht und überblendet haben. Da kann man einzelne Klänge manchmal gar nicht einer einzelnen Sängerin zuordnen. Aber es klingt halt fantastisch.

Übrigens: Die meisten ABBA-Songs wirken nur „einfach“ – aber versuchen Sie mal, sie nach- oder mitzusingen. Also so richtig. Allein der erforderliche Tonumfang führt da sehr schnell an individuelle Grenzen. Und selbst wenn Sie in „Dancing Queen“ oder „I’ve been waiting for you“ tatsächlich alle Töne erreichen, haben diese Töne dann noch Ihre unverwechselbare Klangfarbe, das volle Timbre? Meine jugendliche und noch nicht ausgebildete Stimme zumindest war damit überfordert. Und auch später, als ich nach jahrelangem Gesangsunterricht schwere Opernarien so halbwegs meistern konnte, fand ich die Songs von ABBA noch immer schwer zu singen. Was mich aber natürlich nicht davon abhielt.

Ich weiß noch, wie es war, als ich im Winter 1981 das frisch erschienene Album „The Visitors“ kaufte. Ich war 17 und fuhr für diesen Kauf nach Pinneberg, wo es in der Bahnhofstraße einen Plattenladen gab. Vorsichtig trug ich meinen wertvollen Kauf nach Hause, während in mir die Vorfreude und die Angst miteinander langwierige Kämpfe ausfochten. Vorfreude, klar, auf das Kennenlernen der neuen Songs, das Lesen der Texte auf der Platteninnenhülle und dann demnächst das auswendige Mitsingen ins Haarbürstenmikrofon. Angst wegen der Gerüchte, die ich gehört hatte: Die Auflösung der Band, Trennungen, Scheidungen, Partnertausch, die Traurigkeit der Songs… alles Gerüchte, natürlich, aber es gab ja kein Internet, in dem ich nach Wahrheiten hätte suchen können. Meine Quelle waren die „Bravo“ und das, was ältere Freundinnen zu berichten hatten (was auch immer ihre Quellen gewesen sein mögen).

Wie sich dann herausstellte, enthielten diese Gerüchte wohl viel Wahres: Die Band löste sich zwar nicht offiziell auf, aber Ende 1982 wurde eine „Pause“ angekündigt und die vier Mitglieder wandten sich verschiedenen anderen Projekten zu, die Damen nahmen Soloalben auf und die Herren schrieben endlich das Musical, von dem sie schon so lange geträumt hatten. Alben wie „ABBA Gold“ und später das Musical „Mamma Mia“ bzw. dessen Verfilmung(en) sorgten dafür, dass sie niemals ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden. Im Gegenteil: Noch immer gibt es vermutlich niemanden auf dieser Welt, der die großen Hits der Band und die Bilder der schrägen Kostüme nicht kennt. Aber: Fast vierzig Jahre lang lehnten die Mitglieder ein gemeinsames Comeback, egal in welcher Form, rigoros ab.

Ich hatte mich mit dem Gedanken, meine All-Time-Lieblingsband niemals live gehört zu haben, wieder und wieder arrangiert. Ein bisschen traurig, aber es war eben so. Immerhin habe ich mir alle ABBA-Alben, sogar die, die ich als LPs besessen hatte, auf CD gekauft. Und mit dem Internet kam ja auch die Möglichkeit, bisher unbekannte Live-Mitschnitte und Raritäten zu entdecken. Zu den großen Jahrestagen gab es meistens auch neue Dokumentarfilme, in denen neue Clips, neue Interviews und neue aktuelle Aufnahmen der Mitglieder zu sehen waren. Gut sind sie gealtert, alle vier, aber sie sind jetzt alle über 70. Nicht unbedingt ein Lebensalter, in dem man nach fast vierzig Jahren endlich ein Comeback plant. Obwohl…

Als dann vor etwa drei Jahren die Ankündigung neuer Songs durch die Nachrichten ging, mochte ich es gar nicht glauben. Schon, weil die Veröffentlichung wieder und wieder verschoben wurde. Aber auch, weil ein ABBA-Comeback, egal in welcher Form, schlicht und ergreifend außerhalb meiner Vorstellungswelt lag. Ein paar Tage lang war ich aufgeregt, aber dann vergaß ich die Sache auch wieder.

Und nun ist es doch passiert. ABBA ist wieder da. Ein neues Album mit zehn Songs erscheint im November, zwei Songs daraus sind letzte Woche bereits veröffentlich worden. In London bauen sie gerade einen Veranstaltungsort, an dem demnächst eine große ABBA-Avatar-Show mit Liveband Premiere feiern wird. Björn und Benny sind sich selbst nämlich treu geblieben und nutzen nach wie vor schamlos alle sich bietenden technischen Möglichkeiten. Sehr abgefahren, zeitreisend irgendwie. Das Album heißt dann auch „Voyage“.

Und die Songs? Die Stimmen? Können die Agnetha und Anni-Frid überhaupt noch singen?

Ich gebe zu: Ich hatte durchaus Bedenken, mir die beiden Stücke anzuhören. Habe auch die große Live-Übertragung der Presskonferenz mit den beiden Männern, in deren Rahmen die Songs zum ersten Mal zu hören waren, geschwänzt und erst später, heimlich sozusagen, angeschaut. Die Songs erst einmal ganz leise auf dem Smartphone gehört… bloß keine zu hohen Erwartungen jetzt. Und überhaupt. Aber dann…

„I still have faith in you“, gesungen hauptsächlich von Anni-Frid. Was soll ich sagen? Die Stimme ist nicht gealtert, sondern gereift. Sie klingt jetzt noch mehr wie ein kostbares Cello und ein bisschen wie die tröstliche Urmutter an sich. Pure Seele. Schon nach wenigen Phrasen war ich hin und weg von diesem Stimmklang. Noch immer unverwechselbar, er geht direkt ans Herz und in die Seele.

Der zweite Song „Don’t shut me down“, gesungen überwiegend von Agnetha, ist auch schön, der Text klug, die Orchestrierung/das Arrangement intelligent. Und auch Agnetha kann noch singen und hat ihren unverwechselbaren Klang nicht verloren, auch wenn sie die stimmliche Komfortzone der mittleren Lage nicht mehr verlässt.

Aber Anni-Frid… hachz.

„I still have faith in you
It stands above
The crazy things we did
It all comes down to love“

Ich gebe zu, ich habe das Stück jetzt ein paarmal in Dauerschleife gehört. Immer wieder mit Gänsehaut. Bald kann ich es auswendig. Und dann kann ich für nichts garantieren. Meine Haarbürste jedenfalls bereitet sich schon auf ein großes Comeback vor.

4 Kommentare

  1. Absolut klasse, wie du deine ABBA-Reise durch die Zeit beschreibst. Dass du die Neuveröffentlichungen erst mal gemieden hast mit einem klammen Gefühl, verstehe ich total. Als absoluter Queen-Fan hatte ich monatelang Probleme, mir die Blue-Ray Disc von „Bohemian Rhapsody“ anzuschauen, lange Zeit stand sie originalverschweisst im Regal. Hatte so viel Angst, dass (m)eine Legende zerstört wird durch „ungeschicktes“ Filmmaterial. Ähnlich muss es dir mit den beiden Neuveröffentlichungen ergangen sein. Feel you! 🙂

    P.S.: Ich hab den Film inzwischen mehrfach geschaut – Freddies Todestag vor einem Jahr erschien mir als geeigneter Zeitpunkt, die Cellophanhülle aufzureissen) und war nicht enttäuscht, sondern begeistert. 😉

  2. Meine erste ABBA- Erinnerung war tatsächlich 1974 beim Eurovision Song Contest. Und ich war sofort Fan und bin es geblieben. Auch ich war extrem vorsichtig, was die neuen Songs anging. Ob das gut geht?
    Ich habe immer Fridas Stimme geliebt: voller Wärme, viel Seele. Und sie überzeugt mich immer noch. Sie umfängt einen wie eine warme Stola, man fühlt sich liebkost. Und ja, I still have faith in you ist so wunderschön gesungen, dass man sich dem nur schwer entziehen kann/will.

  3. Schön, dass Du „I´ve been waiting for you“ als Beispiel benennst. Es ist ja ein Song „aus der zweiten Reihe“, wenn es sowas bei Abba überhaupt gibt. Er gehört aber auch zu meinen Lieblingen, gerade weil sich die Stimme von Agnetha mit solch einer Leichtigkeit in schwindelerregende Höhen hochschraubt.
    Auch sonst erkenne ich mich in Deinem Text wieder. Meine erste LP war „The Album“, ich habe sie zum 8. Geburtstag geschenkt bekommen. Später habe ich sie mir dann als CD gekauft, nochmals viele Jahre später als remastered CD und heute höre ich sie auf Deezer.
    Vielleicht sehen wir uns ja mal in London 😉

  4. Ich mochte ABBA schon, ich fand sie zumindest nicht furchtbar. Ich besitze 1 CD (die ich mir aber nicht selbst gekauft hatte). Zu einem Konzert wäre ich nicht gegangen, da war ich mehr in der Rockphase und hätte das voll uncool gefunden.

    Als musikalisch völlig ungebildet, hielt ich ABBA damals ’nur‘ für eine Band mit großartigen Sängerinnen, die schräge Klamotten trugen und deren Songs man sich gelegentlich durchaus mal anhören konnte.
    Bis ich vor einigen Jahren eine ABBA-Doku sah.

    Es ging u.a. auch um das Musical, was gerade auf die Bühne gekommen war. Man hatte versucht, die Musik so authentisch wie möglich zu rekonstruieren und festgestellt, dass das fast unmöglich war. Bei der Analyse fand man heraus (wenn ich mich recht erinnere), dass bei manchen Songs bis zu 65 verschiedene Tonspuren übereinander gelegt worden waren. Was mich, obwohl immer noch musikalisch ungebildet, mächtig beeindruckt hat. Und nicht nur mich.

    Seitdem höre ich ABBA mit anderen und sehr gespitzten Ohren und sehr viel Respekt.

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