Blick auf die Insel: Königliche Trauer und die Queue

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen mit den Stichworten England, Monarchie und Königin so geht, aber ich nehme, obwohl ich mir Vergleichbares in Deutschland weder vorstellen kann noch dringend wünsche, doch halbwegs regen Anteil an den derzeitigen Ereignissen im Vereinigten Königreich.

Natürlich kam der Tod von Queen Elizabeth II keineswegs überraschend, aber eben doch einigermaßen plötzlich.  Zwei Tage zuvor hatte ich sie noch im Fernsehen gesehen, beim Durchtauschen ihr Prime Ministers, etwas blass zwar und zerbrechlich wirkend, aber doch lächelnd und winkend, so wie immer. Und dann plötzlich die Nachricht: London Bridge ist down.

Wenn Sie Großbritannien mögen und ein bisschen kennen, wissen Sie vielleicht, dass es keine Verfassung oder ein Grundgesetz in Form eines einzelnen Dokumentes hat, sondern eine bunte Sammlung aus Gewohnheitsrechten, dem Common Law und für die Verfassung als relevant befundenen Gesetzen. Das wird aber vermutlich mehr als wettgemacht durch die bereitliegenden, unfassbar ausgefeilten und detaillierten Pläne, die abgearbeitet werden, wenn ein Mitglied der königlichen Familie stirbt. Die „Operation London Bridge“, also alle zu regelnden Angelegenheiten nach dem Ableben der Queen, wurde schon in 1960er Jahren ausgearbeitet und regelmäßig aktualisiert, unter anderem von der Queen selbst. Und so schauen wir jetzt mit Staunen auf die Insel, wo es offenbar gelingt, eine Staatstrauerzeit von 10 Tagen zwischen der Todesnachricht und dem Staatsbegräbnis mit einer so unglaublichen Menge von Aktivitäten und Aktionen zu füllen, dass die zur Verfügung stehende Zeit fast zu knapp scheint.

Und soll ich Ihnen was sagen? Ich finde das irgendwie ganz toll.

Schon die zahlreichen Prozessionszüge mit dem Sarg der Queen in Schottland und England … die kurze Aufbahrung in Edinburgh und nun das lange „Lying-in-State“ in der Westminster Hall mit der sich täglich erneuernden und alle Rekorde sprengenden „Lying-in-State-Queue“, der wahrscheinlich längsten und bestorganisierten Warteschlange der Welt. Und natürlich einem Rund-um-die-Uhr-Livestream (den ich unglaublich meditativ finde und abends zum Schlafengehen gerne eine Weile verfolge). Dazwischen eingestreut Gedenkgottesdienste und Totenwachen der vier Kinder der Queen und und und. Wahnsinn.

Und die Menschen strömen nach London, von überall her. Sie legen Blumen auf aufgewiesenen Flächen in den an den Buckingham Palace grenzenden Parks ab – Paddington-Plüschtiere und „for later“ verpackte Marmalade Sandwiches sind jetzt offiziell unerwünscht, was im Hinblick auf Nachhaltigkeit sicher sinnvoll ist, aber irgendwie auch schade, weil die Idee so schön war. Sie stehen acht oder zwölf oder vierzehn Stunden und länger in der Schlange, um dann langsam und geordnet am Sarg vorbeizuschreiten und vielleicht eine Sekunde pro Person Zeit zu haben für ein Nicken, ein Lächeln, ein „Thank you, for everything“.

Sterben ist ein Teil des Lebens, so sagen wir im Hospiz, und es soll auch nicht ins Hinterzimmer der Tabus abgeschoben werden, sondern sichtbar in der Mitte der Gesellschaft seinen Raum einnehmen. Das findet im Vereinigten Königreich gerade statt, und wie.

Ja, klar, sagen Sie, weil es halt die Queen ist, und weil es den Plan für die „Operation London Bridge“ schon seit sechzig Jahren gibt. Jaha, sage ich, aber diesen Plan könnten sich die Zeremonienmeister des Vereinigten Königreiches an den für uns manchmal etwas nach Karnevalsprinz aussehenden Hut stecken, wenn die Menschen – die Dus und Ichs – nicht mitmachen würden. Eine zehntägige Staatstrauer wäre doch ohne die Akzeptanz und Mitwirkung der Bevölkerung auch in einem so eigentümlichen Land wie England schlicht und einfach undenkbar.

Ich sage auch, dass wir auch in einer so speziellen Trauersituation etwas erfahren und lernen können, was uns für unser eigenes Leben und im Umgang mit unseren eigenen Verlusten nützlich sein kann. Jede stille Beschäftigung mit der Endlichkeit an sich, jedes Gespräch mit Menschen in unserem Umfeld (sei es darüber, ob die Queen nun einbalsamiert wurde oder der Sarg eine fantastische Kühlung hat oder darüber, dass der neue König vermutlich wenig Raum für seine Trauer findet, weil er so viel zu erledigen hat – wie ein ganz normaler Mensch bzw. die meisten von uns beim Tod eines wichtigen Menscchen) und jedes Sich-Einlassen auf Gedanken wie „Was macht das eigentlich gerade mit mir?“ und „Was empfinde ich dabei?“ bringt uns voran in unserem ganz eigenen Umgang mit dem Themenkomplex Sterben, Tod und Trauer. Davon bin ich überzeugt.

In Deutschland habe ich so etwas noch nie erlebt, ich könnte mir auch nicht vorstellen, wer so ausführlich kollektiv betrauert werden könnte. Hier, in Hamburg und Norddeutschland, fallen mir vor allem Heidi Kabel, Helmut Schmidt und zuletzt Uwe Seeler ein, deren Ableben so etwas wie eine Gemeinschaft im Trauern über die üblichen gesellschaftlichen Grenzen hinweg ausgelöst haben – aber für einen oder maximal zwei Tage. Zehn Tage unter Aussetzung eines großen Anteils des öffentlichen Lebens? Undenkbar!

Warum mir aber Heidi Kabel, Helmut Schmidt und Uwe Seeler im Zusammenhang mit Queen Elizabeth II einfallen, kann ich Ihnen ereklären: Ihre Jobs bzw. Funktionen brachten ihnen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, aber ihre individuellen unverwechselbaren Persönlichkeiten brachten ihnen die Sympathie der Menschen. So sehr, dass die Menschen an den Straßen standen, als der Sarg vorbeigefahren wurde, und dass sie sich die Fernsehübertragungen von Trauerfeiern angeschaut haben oder gar stundenlang in Schlangen standen, um sich persönlich zu verabschieden. Diese Berühmtheiten hatten ihren Platz in den Herzen der Menschen, auch in meinem – und sie waren irgendwie immer da, mein ganzes Leben lang. Ich will jetzt nicht behaupten, dass sie in meinem Leben riesige Lücken hinterlassen, die nie wieder gefüllt werden können, aber ein bisschen fehlen tun sie mir schon. Ein bisschen fehlen wird mir auch die Queen – und das ist auch okay so.

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