Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Dreizehnter und vorerst letzter Teil.

„Du, Jette?“

„Ja, Jehan?“

„Mir ist kalt“, murmelte Jehan leise und kuschelte sich dichter an seine Schwester, die neben ihm unter einer Gartenbank kauerte. „Und ich habe so schrecklichen Hunger.“

„Ich weiß“, erwiderte Jette und schlang den linken Arm um den bebenden Jehan, während sie mit der rechten Hand ihr Smartphone umklammerte, dessen Display wenigstens ein bisschen warmes Licht abgab (sie hatte mittlerweile die Taschenlampen-App aus- und die Kaminfeuer-App eingeschaltet). „Aber es ist nicht kalt genug, um zu erfrieren. Und es müsste auch bald hell werden. Der große freundliche Mann steht ja meistens früh auf und dann lässt er uns bestimmt bald wieder rein.“

„Mepp!“, sagte Jehan, aber es klang nicht sehr überzeugt. Sie saßen jetzt schon mindestens zwei Stunden draußen an der Gartenbank, nachdem der Igel sie aus der Nähe des Fluchttunnel-Eingangs verjagt hatte und immerhin konnten sie von diesem Standort aus das Schlafzimmerfenster des großen freundlichen Mannes sehen. Noch war dort alles dunkel, aber es stimmte: Jederzeit konnte dort das Licht angehen und der große freundliche Mann die Stöpsel aus den Ohren nehmen.

„Halt noch ein bisschen durch!“, sagte Jette. „Ich wärme dich, so gut ich kann. Und nächstes Mal, wenn wir vor die Tür gehen, nehmen wir unser Übergangsfell mit oder unsere Bettdecke.“

„Gute Idee“, meinte Jehan, „aber vielleicht will ich auch nie wieder raus. Oh, war da ein Geräusch?“

Aufmerksam spähten die beiden weißen Katzen in die Dunkelheit. Irgendwo war doch eben eine Tür ins Schloss gefallen? War da nicht eine Bewegung im Schatten des Gebüschs neben der Häuserreihe?

„Wuff!“, rief es fröhlich und: „Wer seid ihr denn?“ Ein kleiner wuscheliger Hund kam aus dem Gebüsch und auf die Bank zugehüpft, auf die Jette und Jehan jetzt vorsichtshalber hinaufhüpften. Der Hund sah nicht sonderlich gefährlich aus, aber er roch nach älterem Hund und so, als hätte er sich nach dem Pinkeln, das noch keine 30 Sekunden zurücklag, nicht die Pfoten gewaschen.

„Wir sind die Katzen aus Nummer 38“, antwortete Jette höflich. „Du wohnst wohl im Haus nebenan? Ich habe dich schon häufiger gehört.“

„Das kann sein!“, erwiderte der Hund fröhlich, während er sich Schritt für Schritt näherte. „Ich habe eine kräftige Stimme für meine Größe. Ich heiße übrigens Anton und habe eine schwache Blase.“

Jehan überlegte, ob er aus Sicherheitsgründen vielleicht auf die Lehne der Bank steigen sollte. Oder vielleicht gar auf die große Eiche klettern, die ein paar Meter entfernt in der Gegend herumstand. Andererseits wirkte der Hund nicht gerade gefährlich, nur eben etwas distanzlos.

„Sag mal, Anton“, unterbrach Jette etwas ungeduldig die Ausführungen des Hundes. „Kennst du dich mit dem Igel aus, der da vorne im Vorgarten auf dicke Hose macht?“

„Ach der“, sagte Anton und machte eine wegwerfende Pfotenbewegung, „der hat oft schlechte Laune, aber er ist nicht besonders gefährlich, glaube ich. Ich habe jedenfalls keine Angst vor ihm.“

„Sieh an!“, stellte Jette fest. „Dann kannst du uns vielleicht behilflich sein. Wo ist eigentlich dein Mensch oder bist du auch alleine draußen?“

„Meine Menschin ist um diese Zeit zu müde, um spazieren zu gehen“, erklärte Anton. „Sie lässt mich nur kurz vor die Tür und legt sich wieder hin. Manchmal schläft sie dann zu fest, um mich zu hören, aber meistens kriege ich sie ganz gut wieder wachgebellt, wenn ich wieder in die Wohnung möchte. Und was ist euer Problem mit dem Igel?“

„Er versperrt unseren Geheimgang!“, beschwerte sich Jehan. „Wir können nicht zurück nach Hause und werden wahrscheinlich verhungern oder erfrieren oder beides.“

„Ihr habt einen Geheimgang?“, fragte Anton. „Wie cool? Und wohin führt der?“

„Ich dachte immer, nach Westberlin“, sagte Jehan, „aber ich sehe hier gar keine Mauer.“

„Achte nicht auf ihn“, flüsterte Jette Anton zu. „Er bringt manchmal Sachen durcheinander. Der Geheimgang führt natürlich nach drinnen in unsere Wohnung. Da wo unser Sofa steht mit den Kissen und den Decken.“

„Und dem leeren Futternapf“, sagte Jehan düster. „Unser Mensch ist nämlich ins Bett gegangen, ohne uns zu füttern.“

„Und da wolltet ihr abhauen?“

„Wir wollten nur eine Maus fangen und dann wieder reingehen“, sagte Jette. Aber dann war es kalt und dunkel und der Igel war so unfreundlich und…“ Sie verstummte, als sie merkte, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie weitersprechen müsste.

Anton sah die beiden müde und verfroren wirkenden weißen Katzen freundlich an. „Ich sehe schon, ihr müsst nach Hause. Soll ich lieber den Igel verjagen oder so laut bellen, dass euer Mensch aufwacht?“

„Am besten beides“, fand Jehan, aber Jette entschied: „Den Igel verjagen. Wenn wir einfach nur wieder nach drinnen könnten, wäre doch alles okay. Und natürlich wäre es günstig, wenn der Mensch nichts von unserem Fluchttunnel erführe. Wer weiß, wofür wir ihn noch brauchen werden?“

„In Ordnung“, sagte Anton und machte sich auf den Weg vor das Haus. Jette und Jehan hopsten von der Bank und folgten ihm mit einem gewissen Sicherheitsabstand.

Anton schien eine gute Nase zu haben, denn er steuerte, ohne nach dem Weg fragen zu müssen, sofort auf den richtigen Busch zu und baute sich vor dem gemütlich im Eingang des Tunnels hockenden Igel auf: „Hör mal, Freund!“

„Was willst du denn, du stinkendes Gehüpfe?“, fragte der Igel unfreundlich. Er wirkte nicht besonders eingeschüchtert, obwohl Anton sich extra groß machte und sogar seine Nackenhaare aufgestellt hatte wie eine Katze. „Möchtest du auch wieder rein, weil da deine Kissen und Decken sind?“

„Unsinn“, sagte Anton und sein Ton war längst nicht mehr so freundlich wie vorher bei seinem Gespräch mit den Katzen. „Ich bleibe gerne mit dir hier draußen, aber meine beiden Freunde hier, die möchten gerne nach Hause – und du versperrst ihnen den Weg.“

„Tja“, sagte der Igel höhnisch, „das tut mir ja jetzt leid.“

„Wusstest du eigentlich“, fragte Anton den Igel, „dass Katzenfutter richtig lecker schmeckt? Ich meine, ich bin ein Hund, ich bekomme auch teures Spezialfutter und so, aber Katzenfutter… hm, das ist richtig köstlich!“

„Und?“, fragte der Igel, der bei dem Wort Katzenfutter durchaus aufgehorcht hatte.

„Und…“, fuhr Anton fort, „Jette und Jehan, haben in ihrer Wohnung einen großen Vorrat an Katzenfutter. Köstliches Katzenfutter. Vielleicht, wenn du nett bist und sie freundlich fragst, stellen sie dir mal ein kleines Probierpaket zusammen.“

„Wirklich?“, fragte der Igel.

„Aber natürlich!“, griff Jette das Thema auf. „Wir zeigen dir gerne, was wir so im Vorratsschrank haben. Mehrere überaus köstliche Geschmacksrichtungen, da ist sicher etwas für dich dabei.“

„Auch Hühnchen?“, fragte der Igel, der schon deutlich interessierter wirkte als vorher.

„Natürlich“, gab Jette selbstbewusst zurück. „Leckerstes Hühnchen. Das essen wir auch sehr gerne!“

„Aber ihr würdet es teilen?“

„Vielleicht“, sagte Jette nachdenklich, „aber natürlich nur, wenn du dich in Zukunft als besserer Nachbar erweist und aufpasst, dass niemand unserem Fluchttunnel-Eingang zu nahe kommt.“

„Aber selbstverständlich, gerne“, dienerte der Igel geflissentlich, „das versteht sich doch von selbst unter guten Freunden.“

„Hab‘ ich irgendwas verpasst?“, fragte Jehan, der der Unterhaltung nicht so ganz folgen konnte, aber Jette zwinkerte ihm nur vergnügt zu und sagte: „Alles klar, Kumpel. Du lässt uns jetzt in unseren Tunnel und wir reichen dir Katzenfutter, Geschmacksrichtung Hühnchen, raus, sobald unser Mensch endlich aufsteht. Und nun mal zack, zack, ich muss aufs Katzenklo. Bis später,Jungs!“

Mit diesen markigen Worten schob sie den Igel einfach zur Seite, was dieser erst realisierte, als sich auch Jehan hastig an ihm vorbei in den Fluchttunnel gedrängelt hatte.

„Na also“, sagte Anton, der Hund. „Das war doch ein Klacks. Ich gehe dann auch mal wieder nach Hause und lege mich noch ein Stündchen aufs Ohr. Tschüß, Stacheldingsi!“

„Tschüß, Stinkesocke!“, gab der Igel zurück, bevor er noch einmal in den Tunnel brüllte: „Und wehe, ihr haltet euer Versprechen nicht! Dann komme ich rein!“

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„Puh“, sagte Jette, als sie in der Küche aus dem Fluchttunnel stieg und sich schüttelte. „Endlich wieder zu Hause. Was für ein Abenteuer!“

„Dieses Draußen macht mich echt fertig“, gab Jehan zurück. „Aber jetzt sind wir ja wieder drinnen.“ Hastig setzte er die Blende wieder vor den Eingang des Tunnels und schraubte sie an.

Jette ließ ihr Smartphone in der Bauchtasche verschwinden und sah schon wieder ganz damenhaft aus, als sie ins Wohnzimmer ging und elegant aufs Sofa hüpfte. Sie fühlte sich auch ziemlich erschöpft, aber das hätte sie natürlich niemals zugegeben. Jehan folgte ihr auf dem Fuß und ließ sich neben ihr nieder.

Dicht aneinander gekuschelt lagen die beiden weißen Katzen nun wieder auf ihrem gemütlichen Sofa mit seinen wärmenden Decken und weichen Kissen. Um sie herum die Stille der frühen Morgenstunde, gelegentlich unterbrochen von einem deutlich hörbaren Magenknurren. Bis endlich, noch einige bange Minuten später, endlich der große freundliche Mann erwachte und die Schlafzimmertür öffnete.

„Na, ihr Mäuse“, begrüßte er die Abenteurer*innen, „habt ihr gut geschlafen?“

„HUNGER!“, schrie Jette. „LOS, FÜTTER UNS! SOFORT!“

Und Jehan konnte gar nicht mehr aufhören, in sehr forderndem Ton Mepp zu sagen.

„Oh“, machte der große freundliche Mann. „Habe ich gestern Abend etwa vergessen, euch Futter hinzustellen? Das tut mir aber leid. Dann braucht ihr ja dringend was. Hühnchen?“

„Gerne Hühnchen“, bestätigte Jette die Bestellung. „Gerne zwei Tütchen.“

„Eins davon kannst du direkt aus dem Fenster werfen“, empfahl Jehan. „Nicht, dass unser neuer Freund, der Igel, reinkommt.“

„Und dann gehen wir schlafen, Jehan“, schlug Jette vor. „Ich bin hundemüde. Hundemüde.“

„Mepp“, sagte Jehan, der schon den Mund voller Katzenfutter hatte. „Mepp.“

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