Breitarschprobleme zu Zeiten von Corona

Können wir mal wieder kurz über Corona sprechen? Ich weiß, das Thema hängt Ihnen genauso zum Hals heraus wie mir, aber es bleibt doch leider wichtig, sich auf dem Laufenden zu halten und von neuen Erkenntnissen und Entwicklungen zu erfahren. Finde ich wenigstens.

Wenn Sie mein Blog regelmäßig lesen, wissen Sie ja: Ich bin dick und unsportlich. Schon mein ganzes Leben lang und wie genau die kausalen Zusammenhänge dieser Eigenschaften sind, darüber streiten die Gelehrten und die ältere Generation meiner Familie. Also darüber, ob ich erst dick oder erst unsportlich war.

In meiner Erinnerung war ich zuerst unsportlich. Was möglicherweise damit zu tun hat, dass ich ein paar Wochen früher als vorgesehen auf die Welt kam und meine Lungen nicht sehr gut entwickelt waren. Auch hatte ich als Baby gleich erst einmal Keuchhusten und eine Lungenentzündung. Ansonsten – so war das in den 60er-Jahren halt noch – hat sich eigentlich niemand um die weitere Entwicklung meiner Lungen gekümmert.

Dass meine Lungenkapazität im Verhältnis zu meiner Größe tatsächlich eher bescheiden ist, fiel erst so richtig auf, als ich mit ungefähr 30 Jahren feststellte, dass ich nicht Opernsängerin werden konnte, weil mein Atem dafür einfach zu kurz war.

Zu meiner Zeit wurde extreme Unsportlichkeit bei Kindern, die ansonsten kerngesund und putzmunter waren, noch nicht weiter hinterfragt. Ich war halt eine lahme Ente und wurde immer zuletzt in alle Mannschaften gewählt. Da ich ansonsten unterhaltsam und beliebt war, nahm ich das meinen Mitschüler*innen nicht besonders übel (den Lehrer*innen schon, denn sie hätten mich ja schließlich die Mannschaft zusammenstellen lassen können und nicht die, die andernfalls immer als erste gewählt worden wären – das hätte ich nämlich ebenso gut gekonnt).

Und dann wurde ich ja auch bald dick, nämlich so gegen Ende der Grundschulzeit und kurz vor dem Einsetzen der Pubertät, und dann war ja sowieso jedem alles klar, denn dicke Kinder waren damals schlicht grundsätzlich unsportlich (und es gab keine Möglichkeit für sie, das Gegenteil zu beweisen).

Mal so unter uns: Abgesehen von meiner unsportlichen Lunge kann ich mir schon ein paar Gründe dafür vorstellen, warum ich dick werden musste. Dazu gehört ein unstillbarer Hunger, der möglicherweise damit zu tun hatte, dass meine Eltern, die ja im Krieg und in den Jahren danach wirklich zu wenig zu essen bekommen hatten, ebenfalls einen unstillbaren Hunger mit sich herumtrugen. Den sie jetzt als junge Erwachsene so nach und nach befriedigen konnten. Da sie aber als Kinder keine Chance gehabt hatten, sich Fettzellen wachsen zu lassen, wurden sie selbst nicht dick. Das übernahm ich, quasi vertretungshalber.

Außerdem war und ist meine Familie so etwas wie ein personifiziertes Nähe-und-Distanz-Problem, was in meiner etwa zwanzig Jahre dauernden Trotzphase dazu führte, dass ich mich, vor allem von meiner Mutter, sehr schlecht abgrenzen konnte und möglicherweise eine Fett-Barriere brauchte, um zu wissen, wo sie aufhörte und ich anfing. Na ja, und dann war ich natürlich noch ein Kind, das große Schwierigkeiten mit Autorität und Disziplin hatte, immer und überall. Das heißt, sobald jemand sagte: „Nun iss doch nicht so viel!“, musste ich zwanghaft noch eine Kleinigkeit zu mir nehmen, ob ich nun gerade Hunger hatte oder nicht.

Sie sehen schon, worauf ich hinaus will: Es war alles meine eigene Schuld. Wäre ich ein braveres Kind gewesen und nicht so übersensibel beim Aufnehmen aller Schwingungen, Sehnsüchte und gemischten Gefühle, die um mich herum in der Luft lagen, dann hätte ich auch sehr gut ein dünnes unsportliches Kind bleiben können.

Oder auch nicht.

Aber obwohl ich heute selbst darüber den Kopf schüttele und mir vornehme, nicht wieder diesen alten und bescheuerten Denkmustern zu folgen, merke ich – und gerade jetzt im Zusammenhang mit Corona – immer wieder, wie schwer dieses völlig unangemessene Schuldbewusstsein abzuschütteln ist.

Ja, ich bin dick. Und selbst wenn mich als Kind jemand gefragt hätte, ob ich dick sein möchte, und ich „Ja, total gerne!“ gesagt hätte: Ich bin nicht selbst daran „schuld“. Ich bin nicht einmal daran schuld, dass es mir so schwer fällt, abzunehmen. Das ist nämlich, ganz objektiv, nicht so einfach. Und wenn ich, heutzutage wider besseres Wissen, noch immer zu viel esse, dann bin ich vielleicht (zu) schwach, aber ganz sicher nicht schuld.

Zurück zu Corona. Im SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 des RKI (Stand: 21. August 2020) stehen „stark adipöse Menschen“ in der Liste der Risikofaktoren für einen schweren Verlauf mittlerweile an dritter Stelle, also noch vor den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Diabetes. Nach allem, was ich mir anfelesen habe, ist das ein angemessener Platz in der „Rangliste“, aber das weiß ich auch nur, weil ich es auf der Website des RKI nachgeprüft habe. Oder haben Sie in letzter Zeit in Deutschland irgendwas über neue Erkenntnisse darüber, wie groß das Risiko auf einen schweren Verlauf von Covid-19 für Übergewichtige tatsächlich ist, gehört und gelesen? Ich nicht.

Eine Studie, die an der Universität von North Carolina durchgeführt wurde und wohl Daten aus 75 Studien aus den verschiedensten Teilen der Welt (von insgesamt etwa 400.000 Personen) verwendet hat, wurde in dieser Woche veröffentlicht und kommt zu ziemlich schockierenden (wenn auch nicht unbedingt überraschenden) Ergebnissen.

Wenn Ihr BMI über 30 liegt und Sie an Covid-19 erkranken, haben Sie:

  • Ein um 113 % erhöhtes Risiko, ins Krankenhaus zu müssen
  • Ein um 74 % erhöhtes Risiko, intensivmedizinische Behandlung zu benötigen
  • Ein um 48 % erhöhtes Risiko, an Covid-19 zu sterben.

Außerdem ist davon auszugehen, dass die Wirksamkeit der „normalen“ Impfung gegen Covid-19 bei Adipösen nicht so gut ist (dieses Phänomen ist schon z. B. von der Grippeimpfung bekannt).

Ich las von dieser Studie in einer englischen Zeitung. In Deutschland habe ich bisher keinen Hinweis auf diese neuen Erkenntnisse gefunden. Warum eigentlich nicht? Wäre doch eine wichtige Information: „Leute, wenn ihr dick seid, werdet ihr im Krankenhaus und auf der Intensivstation keinen Spaß haben. Und die, die euch behandeln und pflegen, auch nicht. Steckt euch also bitte nicht an.“

Bei der Vorstellung, wie ein gestrandeter Wal auf einer Intensivstation von hochengagierten Pfleger*innen, die vielleicht nur halb so viel wiegen wie ich, hin- und hergerollt zu werden, gruselt es mich ziemlich. Ich möchte das, wenn es irgendwie geht, vermeiden.

Ja, ich zähle mich zur Risikogruppe. Nein, ich möchte das, wenn ich nicht muss, weder mit meinen Haus- noch mit der Betriebsärztin besprechen. Ich möchte mich nur so gut wie möglich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen. Und vielleicht ein bisschen Rücksichtnahme von denen, die das nicht so unentspannt sehen. Und: Ein bisschen mehr Entschiedenheit von offizieller Seite beim Hinweis darauf, dass Übergewichtige, auch wenn sie vielleicht noch nicht mittelalt bis alt sind und keine spektakulären Vorerkrankungen haben, sich nach Möglichkeit nicht infizieren sollten. Und darauf, dass es bei der Frage, ob jemand zur Risikogruppe gehört, nicht um Schuld geht. So gar nicht.

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