Sie haben es ja bemerkt, es ist Herbst geworden. Nicht ganz unbemerkt, aber doch irgendwie unvermittelt. Die Umstellung auf die Winterzeit bestätigt in meinen Augen nur den Verdacht, dass die Tage gerade sehr viel kürzer und dunkler werden (und die Hoffnung, dass man in längeren Nächten nun irgendwie mehr Schlaf bekäme, realisiert sich doch wieder nicht). Das Wetter draußen kann man, nachdem eigenartig benannte Stürme die letzten Blätter von den Bäumen geweht haben, auch nicht mehr als anheimelnd bezeichnen.
Ich bleibe im Herbst am liebsten zu Hause. Auf meinem Sofa oder auch im Bett. Den Aufenthalt im Freien halte ich so kurz wie möglich, es ist dann auch eher weniger ein Aufenthalt als eine Fortbewegung. Auf kürzestem Wege von A nach B, idealerweise ohne Zeit zu vertrödeln. Liegen A und B weiter auseinander als etwa einen Kilometer, nutze ich öffentliche Verkehrsmittel, von denen es in Hamburg ziemlich viele gibt. Im inneren Stadtbereich, in dem ich überwiegend unterwegs bin, sogar sehr viele. Und trotzdem sind Busse und Bahnen, wie auch die Straßen, Fuß- und Radwege, Trampelpfade und Luftlinien, immer voll. In Stoßzeiten sogar übervoll. Und Stoßzeit kann in Hamburg immer und überall sein, es braucht dafür keinen speziellen Anlass. Man stößt sich einfach gegenseitig aus dem Weg und schon ist die Stoßzeit eröffnet.
Die Stadt ist voll mit Menschen. Menschen, die stehen, eilen, schlendern, sitzen, reden, lachen, weinen, singen, streiten, telefonieren, schubsen, knutschen und/oder rauchen. Stark vereinfacht ausgedrückt: Menschen, die im Weg sind, und zwar mir.
Am liebsten wäre es mir ja, wenn ich G20-Status hätte und wenn, sobald ich ankündige, mich im Freien von einem Ort bewegen zu wollen, sofort die gesamte Strecke gesperrt und erst wieder für den Rest der Welt freigegeben würde, wenn ich wohlbehalten und unbehelligt mein Ziel erreicht habe. Ach ja: Eine gepanzerte Limousine, die nur mich geräuschlos und vibrationsarm durch die Gegend fährt, wäre auch schön.
Aber ich will ja nicht unbescheiden erscheinen. Ich verstehe auch – irgendwie – dass andere Menschen, die ebenfalls keine Lust auf Interaktion haben, gelegentlich meinen Weg kreuzen müssen oder, idealerweise unter Einhaltung eines nicht zu kleinen Abstands und Wahrung meines Zartgefühls, vor oder hinter mir auf derselben Strecke unterwegs sind. Sofern sie dabei keine Geräusche machen oder Gerüche verbreiten, jedenfalls.
Was ich aber überhaupt nicht gut vertrage: Menschen, die sich im öffentlichen Raum, egal ob Straße, Theater, Supermarkt, Restaurant oder Verkehrsmittel, egal wie überfüllt und olfaktorisch bzw. geräuschpegeltechnisch am Rande des Überlebbaren, aufführen, als wären sie bei sich zu Hause oder auch völlig alleine auf der Welt.
Wenn Sie auch in einer Großstadt wie Hamburg leben, ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass es von dieser Sorte Mensch ganz schön viele gibt. Und dass es immer mehr werden. Ich meine hier keineswegs nur Touristen, obwohl die natürlich auch sehr nerven, weil sie meistens in Familien- und Gruppenverbünden auftreten und einfach zu viel Zeit haben, um nicht immer irgendwem im Weg zu sein. Ganz schlimm sind auch die Tagesausflügler und Besucher aus dem Umland, die in die große Stadt kommen, um zu shoppen oder die Elbphilharmonie, die Reeperbahn oder irgendeine Wochenend-Großveranstaltung zu besuchen. Die, die dann abends, wenn sie uns Städter in Grund und Boden genervt haben, wieder in ihre Dieselfahrzeuge (ältere Generation) und SUVs (jüngere Generation) einsteigen und in ihre verkehrsberuhigten Landstriche heimkehren.
Ich meine, können die nicht zu Hause auf dem Dorf mit der ganzen Familie, die natürlich Hand in Hand und nebeneinander gehen muss, die Fußwege blockieren und maulende Kinder anschreien? Da wäre doch viel mehr Platz und mehr Aufmerksamkeit bekommen Einzelaktionen dort sowieso. Hier in der Stadt gucken die Anwohner und aus beruflichen Gründen zur Anwesenheit Verdonnerten doch gar nicht mehr hin, bevor sie ihre Wasserpistole zücken oder den Inhalt ihres Nachttopfes aus dem Fenster auf die Straße kippen.
Auch Ur-Hamburger mit erstem Wohnsitz in der Stadt sind einfach viel zu viel im öffentlichen Raum sichtbar, hörbar und riechbar. Und eben nicht nur, weil sie ja auch von A nach B müssen. Nein, ganz offensichtlich gibt es einen neuen Trend (mal wieder), der die Menschen auf die Straße treibt. Anscheinend ist „Cornern“ das neue „Cocooning“. Seufz.
Cornern kennen Sie, oder? Früher nannten wir das „auf der Straße rumlungern“. Möglichst in Reichweite eines Kiosks, in dem man Getränke kaufen, aber nicht verzehren kann. Früher dachen wir allerdings auch, dass Menschen das tun, weil sie kein Zuhause haben. Heute stellt sich nun heraus, dass Menschen das tun, obwohl sie ein Zuhause haben und dass sie offenbar irgendeinen Mehrwert daraus gewinnen. Dieser Mehrwert hat nichts mit der Attraktivität des Ortes zu tun, es geht nicht um schöne Aussicht (von der es in Hamburg ja wahrlich genug gäbe) oder einen anheimelnden Platz im Freien. Nein, gecornert wird wirklich an Straßenecken, die im Allgemeinen außer der Nähe zu irgendeiner Ausgehmeile nicht viel zu bieten haben. Getränke und Unterhaltung muss man sich also selbst mitbringen.
Jeder, der mal versucht hat, sich am späten Freitag- oder Samstagabend einfach nur einen Weg durch die cornernden Massen zu bahnen (zu Fuß, mit dem Rad oder auch mit dem Auto), hat damit quasi schon den Grundkurs Misanthropie belegt. Und wer versucht, in einer Wohnung in der Nähe einer Corner-Ecke (ja, ich weiß!) zu schlafen, hat schon den Fortgeschrittenenkurs im Crash-Verfahren abgeschlossen.
Was das alles mit Herbst zu tun hat, wollen Sie wissen? Das kann ich Ihnen sagen: Anfang November mehren sich in Hamburg wieder die Anzeichen dafür, dass demnächst das staatlich subventionierte Cornern im großen Stil beginnt. Das Cornern, bei dem sich Touristen, Landeier und Stadtbewohner nicht nur treffen, sondern auch ihre Ecke und ihren Aschenbecher miteinander teilen. Mit Glühwein und Weihnachtsmusik. Auf jedem verdammten Platz der Stadt und auch an diversen Ecken, die außer zwei sich treffenden Straßen eigentlich nichts zu bieten haben.
Ausgerechnet im Herbst, wenn es kalt, dunkel und ungemütlich wird, drängt es also die Menschen wieder auf die Straße. All die unterschiedlichen Im-Weg-Steher vereint bzw. dicht gedrängt mit minderwertigem Glühwein, kalten Füßen und fieser Weihnachts-Fahrstuhlmusik. Jedes Jahr kommen neue Weihnachtsmärkte dazu, die Tendenz geht zur flächendeckenden Verbreitung im gesamten Stadtgebiet. Beim Versuch, einen Weihnachtsmarkt unauffällig zu umgehen, kann man schon mal in den Sog eines benachbarten Weihnachtsmarkts hineingeraten. In der Innenstadt liegen die Weihnachtsmärkte sogar so dicht zusammen, dass sie zum Teil ineinander übergehen, und es ist schlechterdings unmöglich, diesen Teil der Stadt zu betreten (und erst recht zu durchqueren), ohne sich plötzlich eingekesselt von Weihnachtsmärkten und ihren leicht zu unterhaltenden Besuchern wiederzufinden.
Die Straßen, Fußwege, Busse und Bahnen der Stadt sind voll mit Menschen. Einer großen Truppe, die zum Cornern unterwegs ist, und einer kleineren, stilleren und blasseren Gruppe, die sich lieber ein Auge aushacken würde, als einen Weihnachtsmarkt (oder irgendeine andere Menschenansammlung) zu besuchen, die sich aber gezwungenermaßen in der Nähe dieser Herde des Bösen aufhalten oder fortbewegen muss. Einige Mitglieder dieser Gruppe sehen schon im Bus so aus, als müssten sie all ihre inneren Pazifisten mobilisieren, um nicht wild um sich zu schlagen.
Ich gehöre natürlich zu dieser Gruppe. Mein innerer Pazifist sitzt allerdings schon seit Mitte Oktober weinend und in Embryonalstellung in der Nähe meiner Leber, spricht nicht mehr in ganzen Sätzen und schreit nur ab und zu: „Schnaps!“ Bisher habe ich noch niemanden verprügelt, aber die Weihnachtsmärkte sind ja auch noch nicht eröffnet. Es dauert aber nicht mehr lange bis dahin, machen wir uns nichts vor. Und bis dahin sind täglich noch mehr Menschen – oder was man gemeinhin dafür hält – auf meinen Strecken unterwegs.
Ich mag den Herbst nicht. So gar nicht. Außer, wenn ich im Bett oder auf dem Sofa sein kann. Mit Katzen, WLAN und ein paar Flaschen Schnaps. Alles andere würde ich gerne bis zum nächsten Frühjahr verschieben. Mal ehrlich, bei dem Betrieb da draußen würde mich doch sowieso keiner vermissen. Meinen Sie nicht auch? Bleiben Sie auch zu Hause? Dann könnten wir uns ja gelegentlich per Twitter zuwinken. Wäre das nicht schön?
Gute geschriebene Geschichte. Aber mir persönlich etwas zu menschenfeindlich im Ton. Ja, mag Sarkasmus, Satire, sonstwas sein (ich habe gelernt, dass Ironie mit großer Vorsicht angewandt werden muss, weil sie häufig nicht verstanden wird, und vielleicht geht es mir mit diesem Beitrag genauso). Dann bitte ich um Entschuldigung dafür, dass ich humoristisch nicht mitkomme.
Das ist in Ordnung. Es gibt keine Verpflichtung, sich von Humor, Ironie, Sarkasmus oder sonstwem erreichen zu lassen. Die Rezeption findet schließlich beim Leser statt und dieser kann mit einem Text etwas anfangen oder eben nicht. (Das ist ja das Schöne an persönlichen Blogs, finde ich.) Danke auf jeden Fall für die Rückmeldung.
Trotzdem mag ich den Stil, immerhin :).
Dann werde ich vorsichtshalber nicht erwähnen, dass ich auch dieses Jahr wieder plane, als Tourist sozusagen, einen Weihnachtsmarkt in Hamburg zu besuchen. Allerdings den Holy-Shit-Shopping-„Markt“, stattfindend in den Messehallen. Ich hoffe, dass ist weit genug weg, um Dir nicht im Weg zu stehen…
Grüße vom (zwar nicht sonderlich verkehrsberuhigten) Landstrich, in dem es proportional gesehen mindestens genauso viele Imwegsteher gibt. Die mich auch nerven. Ich fühle also mit Dir!
Ja, das ist wahrscheinlich sicherer. Wobei ich echte Märkte völlig in Ordnung finde, noch dazu, wenn sie nicht auf der Straße stattfinden sondern in dafür vorgesehenen Räumlichkeiten. Äh, was ist Holy Shit? Devotionalien?
Ich möchte jetzt Devotionalien nicht bewerten – aber glücklicherweise gibt es genau die dort nicht. Nachwuchskünstler- und Designer bieten dort ihre Werke an. Sehr zum empfehlen, kann ich nur sagen. Aber Gedränge ist dort leider auch.