Gastbeitrag von @esistok: Sie sind krank? Die Psychiatrie macht Hausbesuche.

Mögen Sie Ihr Zuhause? Haben Sie es sich schön eingerichtet, muckelig, so, dass Sie alles finden? Zum Beispiel die Toilette beim nächtlichen Gang? Morgens die Kaffeemaschine mit noch geschlossenen Augen? Zuhause, mit dem Bett, in dem Sie gut schlafen können? Mit den richtigen Kopfkissen, der Decke, die nicht zu warm bzw. zu leicht ist? Zuhause, da, wo Ihre MitbewohnerInnen leben? Der Mann, die Frau und vor allem Ihre Katzen (oder Ihre sonstigen Haustiere)?

Sie mögen es da, wo Sie es sich über die Zeit schön eingerichtet haben? Gut, gut.

Nun, bitte werden Sie es nicht, aber stellen Sie sich vor: Sie werden krank. Oh, oh. Sie werden ziemlich krank. Und zwar psychisch (weil das mein Hauptgebiet ist). Sie werden so krank, dass Sie Hilfe benötigen. Und zwar massive Hilfe.

Sie lassen sich (reden wir bitte vom Idealfall) freiwillig in die Psychiatrie einweisen. Idealfall, weil von Ihnen keine Gefahr für Leib und Leben ausgeht. Weder für andere noch für Sie selbst. Also keine Eigen- oder Fremdgefährdung – falls dies nämlich der Fall wäre, würden Sie nicht selbst über Ihren Aufenthalt in der Psychiatrie entscheiden – Sie würden nach dem PsychKG eingewiesen. (Die Psychisch-Kranken-Gesetze regeln die freiheitentziehende Unterbringung psychisch erkrankter Menschen bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus. Es sind Landesgesetze. Im Saarland heißt es Unterbringungsgesetz.)

Aber das trifft auf Sie in diesem Beispiel momentan nicht zu; Ihnen gehts nur so nicht gut, vielleicht leiden Sie an einer mittelgradigen depressiven Episode.

Also Krankenhaus. Und zwar die Psychiatrie.

Die Psychiatrie, die sich über die Jahrhunderte ihren besonderen Ruf hart erarbeitet hat. Es gab Zeiten, da kamen alle – Sträflinge, Vagabunden, psychisch Erkrankte – in ein gemeinsames Zuchthaus; diese Menschen wurden aus der Gesellschaft verbannt. Später kamen die Irrenhäuser (1794 der „Narrenturm“ im Wiener AKH). Und die waren schon im Vergleich zu vorher ein Fortschritt. Langsam, seeeehr langsam entwickelte sich der medizinische Fachbereich der Psychiatrie über die Jahre.

Ich habe in den 70iger Jahren ein Buch über die Praktiken in der Psychiatrie München-Haar gelesen, das mich wegen der krassen Methoden, die dort beschrieben waren, sehr beeindruckt hat. The times, they were a-changing.

Sie sind immer noch erkrankt und brauchen Hilfe. Trotz der Dinge, die Sie über Psychiatrie wissen, liegt genau die nun an.

In der Fachklinik angekommen, geht es nicht nur um die beschriebenen Vorurteile oder die schlimme Geschichte der Psychiatrie: ganz konkret sind Sie nun auf einer Akutstation im Krankenhaus. Dort gibt es einen eigenen Rhythmus. Wer kennt es aus der Somatik nicht, dieses „HALLO, ICH MESS MAL FIEBER!“ inkl. Einschalten der Flutlichtanlage um 4 Uhr morgens, weil … keine Ahnung warum. Niemand weiß das. Aber es gehört zu den Dingen, denen man im Krankenhaus eben ausgeliefert ist.

In der Psychiatrie wird meist nicht um 4 Uhr morgens Fieber gemessen. Aber man liegt schon mal in einem Mehrbettzimmer (meist zu zweit). Mit dem anderen erkrankten Menschen muss man sich halt arrangieren. Oft klappt das ja auch gut unter den MitpatientInnen. Im Gegensatz zu Zuhause gibt es Frühstück, Mittag, Abendbrot zu vorgegebenen Zeiten. Da lässt sich nicht dran rütteln.

Es gibt auch therapeutische Gruppen, Einzelgespräche mit Therapeuten (wenn man Glück hat, 1 mal die Woche), Bewegungsangebote, ergotherapeutische Angebote und und. Das ist, auch wenn es Ihnen in Ihrer Lage nicht so scheint, schon eine ganze Menge, was da üblicherweise aufgeboten wird. Obwohl es natürlich Einschränkungen geben kann, weil der Ergotherapeut grad krank ist, die Therapeutin im Urlaub und so. Diese Dinge finden auch zu festen Terminen statt. Abgesehen von diesen Angeboten wird der Stationsalltag noch vom abendlichen Fernsehen von … bis… und der Schlafenszeit geprägt.

Falls man nachts Probleme hat, zum Beispiel einen Alptraum, kann man sich im Dienstzimmer melden – wenn es denn besetzt ist. Wenn nicht, hängt meist eine einfache Anleitung aus, wie man sich doch noch bei einer Fachkraft Hilfe holen („sich entlasten“) kann („Heute ist das Dienstzimmer nachts leider nicht besetzt. In DRINGENDEN Fällen bitte vom Stationstelefon aus die 123456789987654321-0001234 anrufen und dann auf Station 44b2 drei Stockwerke unter Ihnen am Ende des langen, dunklen Flurs melden – Vielen Dank“).

All diese Dinge in ihrer Gesamtheit machen den Charme eines Klinikaufenthaltes aus. Es ist wie ein Korsett, das einem übergestreift wird. Die ganzen Regeln, Strukturen können allerdings auch hilfreich sein, zum Beispiel wenn man seine sonstigen Bezugspunkte verloren hat und, wie es ja tatsächlich oft während einer psychiatrischen Erkrankung ist, etwas anderes benötigt als sein möglicherweise wenig hilfreiches Zuhause. Stichwort Käseglocke.

Aber: Es gibt auch Erkrankungen, die sehr gut in den eigenen vier Wänden behandelt werden können.

In der letzten Zeit hat sich der Grundsatz „Ambulant vor Stationär“ etabliert. Das betrifft Menschen, die ihr Zuhause nicht missen möchten, ihren Partner, die Haustiere, den Weg zur Toilette. Die vielleicht gern selbst kochen möchten, was übrigens durchaus hilfreich sein kann, und gern ihr eigenes Essen mögen. Die trotz ihrer Erkrankung gern einkaufen wollen – ja, das geht manchmal ganz gut -, die sich über Nachbarn freuen, über ihr Lebensumfeld. Die vielleicht auch andere Angebote des sozialen Hilfesystems (vieles geht ja momentan trotz Corona wieder) annehmen wollen, wie zum Beispiel eine Tagesstätte, eine Seniorengruppe oder einen Kurs der VHS besuchen möchten.

In solchen Fällen kann eine stationsäquivalente Behandlung („StäB“) helfen. Wohl dem Menschen, der in einem Bereich wohnt, wo so etwas angeboten wird.

Ich arbeite in einem solchen StäB-Team. Wir sind praktisch eine ganze Station mit KrankenpflegerInnen, ErgotherapeutInnen, ÄrtzInnen, PsychologInnen, GenesungsbegleiterInnen, BewegungstherapeutInnen usw., die zu Ihnen nach Hause kommt. Allerdings nicht alle auf einmal. Wir haben ein paar Autos, ein paar E-Bikes, mit denen wir uns auf den Weg machen. (Deshalb spielt übrigens der Wohnort eine Rolle – wegen der Strecke, die man zur hilfesuchenden Person braucht).

Unser StäB-Team ist Teil des klinischen Konzeptes, auch wenn wir ambulant arbeiten. Unsere Arbeit soll stationsverkürzend bzw. stationsvermeidend sein. Angeordnet sind wir nach der Station, was eben stationär bedeutet, und vor der Möglichkeit der Tagesklinik, die teilstationär ist. Dazwischen halt.

Kurz zur Erklärung; ich merk selbst, dass es etwas verwirrend geworden ist: Wenn man psychisch akut erkrankt ist und in die Klinik möchte (was freiwillig ist), kommt man auf eine Akutstation. Wenn es dann wieder etwas besser geht, könnte man zu uns (StäB oder auch Home Treatment).

Wir besuchen die Person bis zu 7mal in der Woche, halten Medikamente vor, bieten Ergo, Bewegung, therapeutische Gespräche mit PsychologInnen oder Gespräche mit unseren PflegerInnen oder GenesungsbegleiterInnen etc. an. Wir würden, und zwar gemeinsam mit der betroffenen Person, klären, was der „Behandlungsauftrag“ an uns ist. Geht es um das Krankheitsverständnis (oft bei Ersterkrankung: was geschieht eigentlich grad mit mir?), geht es um Ängste (Ich kann nicht meine Wohnung verlassen/ unter Menschen gehen/ Straßenbahn fahren etc., andere Menschen machen mir Angst) oder geht es um etwas anderes von dem bunten Strauß möglicher psychischer Erkrankungen?

Ich versuche mal zu erläutern, was wir machen, wenn der „Auftrag“ geklärt ist.

Beim Krankheitsverständnis würde dann Aufklärung helfen, das, was das psychologische Fachpersonal „Psychoedukation“ nennt. Und/oder der/die GenesungsbegleiterIn erzählt über die eigene Erkrankung – auch oft sehr sinnvoll, weil Personen aus der Genesungsbegleitung eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben.

Falls die betroffene Person Angst vor den Öffis hat, könnte Fachpersonal sie zum Beispiel beim Straßenbahnfahren begleiten, bei Angst vor Menschenansammlungen mit in ein Café gehen usw.

Sind wir nicht da, macht die zu behandelnde Person, was immer sie möchte. Wenn es dann noch einmal etwas besser geht, und sie zum Beispiel wieder ins Leben möchte und/oder auch Tagesstruktur benötigt, kann sie in die Tagesklinik wechseln, wo sie sich von Montag bis Freitag meist zwischen 9 und 16 h aufhält. Dort gibts ebenfalls viele Angebote plus zum Beispiel beim Essen auch den Kontakt zu anderen PatientInnen, also Menschen, denen es genauso geht. Auch das ist ein wichtiger Aspekt auf dem Weg zurück in die Normalität.

Ich hoffe, ich konnte das Konzept von StäB oder Home Treatment, aber auch die Rolle von dieser stationsäquivalenten Behandlung innerhalb des akuten Klinikkonzeptes einigermaßen verständlich darstellen.

(Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Rückmeldungen zu dem Text geben – falls es Unklarheiten gibt, Verbesserungen möglich und/oder nötig sind, Sie sich über Dinge aus dem Text ärgern oder auch freuen. Übrigens habe ich das erste Mal versucht zu gendern, was bestimmt noch verbesserungswürdig ist. Da dies ein Gastblogpost ist, Rückmeldungen bitte direkt an @esistok. Danke!)

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