Leben während der Pandemie: Meine Mutter, ihre Demenz, das Gerät und ich.

Bisher hatten mein Bruder und ich ja den Eindruck, dass unsere Mutter mit den Corona-Einschränkungen, die im Seniorenheim über sie verhängt wurden, recht gut klar kam. Erstaunlicherweise, denn die Restriktionen waren (und sind) heftig: Seit April letzten Jahres gelten die bekannten Abstands- und Hygieneregeln sowie durchgehende Maskenpflicht für alle MitarbeiterInnen und BesucherInnen. Seit Ende letzten Jahres ist für alle Externen vor dem Betreten des Hauses ein Schnelltest verpflichtend.

Besuche sind zwar, sofern das Virus nicht gerade wieder im Haus gastiert, möglich, aber auch stark reglementiert. Im letzten Frühjahr durfte meine Mutter eine ganze Weile nur von einer Person besucht werden, worauf mein Bruder und ich zurücktraten und ihrem Freund den Vortritt ließen. Dann durften wir wieder, aber jeder von uns nur eine Stunde pro Woche, natürlich mit Voranmeldung und unter Wahrung der Abstands-, Hygiene- und Maskenregelungen und im Speisesaal im Erdgeschoss bzw. auf der dazugehörigen Terrasse. Ins Haus durften wir nicht, weder in die Zimmer noch in die Gemeinschaftsräume.

Trotzdem gab es zwei größere Ausbrüche im Heim bzw. im Wohnbereich meiner Mutter, die längerfristige komplette Besuchs- und Betretungsverbote zur Folge hatten. Einmal vom 23. Dezember bis zum 24. Februar (in dieser Zeit waren zahlreiche BewohnerInnen, darunter auch meine Mutter, mit Corona infiziert, dankenswerterweise ziemlich genau zwei Wochen nach der ersten Impfung, so dass der Ausbruch halbwegs glimpflich ablief) und einmal vom 3. April bis 1. Mai.

In der zweiten Periode war meine Mutter nicht wieder infiziert, wurde aber als Kontaktperson ersten Grades vom Gesundheitsamt wieder in Quarantäne in ihr Zimmer verbannt. Diesmal zum Glück nur für zwei Wochen, im Januar/Februar hat es drei Wochen gedauert, weil zur Freilassung innerhalb des Wohnbereiches ja ein negativer PCR-Test vorliegen musste. Trotz der auch zu Beginn der Infektion nicht sehr hohen Viruslast dauerte das halt seine Zeit.

An dieser Stelle noch einmal: Ein Hoch auf die Impfung! Es ging ja zu Silvester los in den Hamburger Senioreneinrichtungen, das Heim meiner Mutter war am 3. Januar zum ersten Mal dran. Während es schon erste Fälle im Haus gab. Ich denke, diese frühe Impfung trotz „Corona in the House“ dürfte einigen BewohnerInnen das Leben gerettet und/oder einen schweren Verlauf erspart haben.

Die ganze Zeit über, nicht nur während der Ausbrüche, waren nicht nur private Besuche, sondern natürlich auch „externe Dienstleister“ wie ÄrztInnen, TherapeutInnen, AlltagsbegleiterInnen, HospizlerInnen, MitarbeiterInnen von Sanitätshäusern, MasseurInnen, FriseurInnen, FußpflegerInnen etc. nicht oder nur eingeschränkt bzw. unter strengen Auflagen im Haus unterwegs. Das Heim meiner Mutter hatte da noch Glück, denn die im selben Haus befindliche Therapiepraxis, die so gut wie alle ärztlichen Verordnungen bei den BewohnerInnen ausführt, hatte mindestens eine/n MitarbeiterIn nur für das Heim abgestellt. Da ging dann auch vor der Verfügbarkeit von Schnelltests für alle einiges mehr als sonst möglich gewesen wäre.

Trotzdem fanden in diesem ganzen Jahr weit weniger betreuende, anregende und unterhaltende Sachen statt als sonst. Klar. Es gab keine oder nur winzige Feiern (natürlich fielen sowohl Weihnachten wie auch Ostern in die ganz üblen Phasen), keine Ausflüge und keine geselligen Nachmittage im Restaurant. Immerhin gab es, soweit möglich, Gemeinsamkeit der BewohnerInnen in den einzelnen Wohnbereichen, aber eben auch alles unter erschwerten Bedingungen.

Für die MitarbeiterInnen muss das Hin und Her zwischen den gerade unter Quarantäne stehenden und den und den Glücklichen, die selbst nicht betroffen waren, eine furchtbare Belastung gewesen sein. Jeder Wechsel zwischen den Bereichen ist ja dann auch mit Schutzkleidung an und aus, Desinfizieren und der Angst, jetzt möglicherweise der Idiot zu sein, der das Virus weiterträgt, verbunden.

Ja, wie im Krankenhaus. Nur dass die MitarbeiterInnen von Seniorenheimen im Umgang mit infektiösen Krankheiten vielleicht nicht ganz so routiniert sind wie ihre KollegInnen in den Kliniken. Nicht, dass es in Senioreneinrichtungen nicht auch sonst ansteckende Krankheiten gäbe: Ein Norovirus zum Beispiel kann dort ziemlich wüten und weniger gesunden BewohnerInnen auch durchaus gefährlich werden. Man weiß aber, wie man damit umzugehen hat, und auch, dass man als jüngerer Mensch selbst nicht allzu viel zu befürchten hat, selbst wenn man sich ansteckt. Bei Corona kann man sich da keineswegs sicher sein. Und es haben sich im Heim meiner Mutter auch einige MitarbeiterInnen infiziert.

Nun dürfen wir seit Anfang Mai wieder zu Besuch kommen.

Die BewohnerInnen sind im Heim grundsätzlich von der Maskenpflicht befreit, zum Glück. Meine Mutter – und vermutlich nicht nur sie – würde durchdrehen, wenn sie eine Maske tragen sollte. Egal wie oft man ihr erklärt, warum das wichtig ist. Sie wundert sich halt jede Woche wieder über meine weiße Gesichtsfarbe (sie sieht nicht mehr wirklich gut, habe ich das erwähnt?). Wir Besuchende dürften im Laufe unseres einstündigen Besuchs die Maske für 15 Minuten abnehmen, wovon ich aber grundsätzlich keinen Gebrauch mache. Auch Körperkontakt wäre in dieser Zeit zulässig. Wir beschränken uns dabei auf gelegentliches kurzes Händchenhalten und anschließend desinfiziere ich uns beiden gewissenhaft die Hände.

Ich möchte nach wie vor nichts rein- und nichts raustragen. Auch nicht mit vollständiger Impfung und negativem Schnelltest.

Ich habe auch nicht den Eindruck, dass es für meine Mutter einen großen Unterschied macht, ob ich eine Maske trage: Sie sieht und hört so oder so nicht gut. Will sagen: Meine Mimik sieht sie sowieso nicht. Und ich bin inzwischen ganz gut daran gewöhnt, hinter meiner Maske laut und deutlich zu sprechen (ja, unter normalen Umständen würde ich es Brüllen nennen).

Wie ich schon sagte: Bisher hat meine Mutter das alles ganz gut weggesteckt. Seit dem zweiten Besuchsverbot aber stellt sie die Situation für meinen Bruder und mich anders dar: Ganz offensichtlich hatte (oder hat) sie mal wieder einen Schub (vaskuläre Demenz entwickelt sich oft eher nicht schleichend, sondern in Schüben). Sie ist ruhiger geworden und wirkt oft versunken in ihre eigene Welt. Manchmal, vor allem mit mir offensichtlich, redet sie gerne und viel, aber völlig unverständlich. Sie benutzt inzwischen fast nur noch ihre supergeheime Geheimsprache mit ihren selbst erfundenen Wörtern. Und natürlich dem schönen Wort „Gerät“ als Platzhalter für fast alles, was ihr gerade nicht einfällt. Ich habe oft keine Ahnung, wovon wir sprechen, gehe aber natürlich voller Empathie auf sie ein, so dass wir gelegentlich sehr angeregte Unterhalten führen. Nur: über welches Gerät?

Die Pflege berichtet, dass sie sehr ängstlich geworden sei. Und bewegungsunlustig. Obwohl sie mithilfe ihres Rollators eigentlich noch ganz gut gehen kann, will sie nicht mehr aufstehen, sondern lässt sich im Rollstuhl herumschieben. Auch Körperpflege ist wohl erheblich komplizierter geworden, weil sie auch die Dinge, die sie noch selbst erledigen könnte, nicht mehr erledigen will.

Der Pflegeaufwand ist dadurch natürlich sehr viel höher geworden und wir haben jetzt auch bei der Pflegekasse eine Höherstufung ihres Pflegegrades beantragt. Bisher hat sie den Pflegegrad 3 (von 5 möglichen). Man darf gespannt sein. Der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) kommt derzeit wegen Corona nicht zur Überprüfung der Situation vorbei, sondern macht sich anhand von Telefoninterviews und vorliegender Dokumentationen ein Bild von der Lage. Falls die/der GutachterIn mit meiner Mutter selbst telefonieren möchte, kann das wohl ziemlich heiter werden.

Trotz dieser eher beunruhigenden Entwicklung wirkt meine Mutter nicht besonders unglücklich. Die Zeit, in der sie sich ihrer wachsenden Einschränkungen und Defizite bewusst war, scheint definitiv vorbei zu sein. Was für sie in gewisser Weise ein Segen ist, denke ich – die Phase, in der ihr das Elend nur allzu bewusst war, hat ja lange genug gedauert. Ich hoffe sehr, dass das so bleibt, egal wie die Krankheit sich ansonsten in der Zukunft noch entwickelt. Dass sie halbwegs zufrieden in sich ruht und nicht ständig traurig sein muss, ist sehr viel wichtiger als dass sie meinen Gerät äh Geburtstag wüsste. Oder meinen Namen.

 

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