Ja, ich auch. #Metoo

Bis vor Kurzem noch war ich mir sehr sicher, dass ich in meinem bisherigen Leben niemals Opfer sexueller Übergriffe (oder schlimmerer Vergehen) gewesen bin. Auch und erst recht nicht in meiner Kindheit oder Jugend. Schließlich bin ich sehr behütet aufgewachsen und in meinem persönlichen Umfeld gab es, wenn ich das nicht im Nachhinein zu verklärt sehe, eigentlich nur anständige Leute. Außerdem bin ich so gar kein Opfertyp: Ich war immer groß für mein Alter und selbst wenn es mir wirklich schlecht ging oder geht, wirke ich immer noch stärker und robuster als die meisten meiner Mitmenschen.

So denkt man von mir – und ich selbst auch, fast mein Leben lang. Erfahrungsberichte von Frauen, die sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren oder sind, las und hörte ich immer mit viel Interesse und Anteilnahme, fand in mir selbst aber nichts, was auf eigene Erfahrungen hindeutete.

Bis ich irgendwann, das ist noch keine fünf Jahre her, anfing, mich plötzlich doch an Ereignisse in meiner frühen Jugend zu erinnern. Keine Ahnung, wordurch diese Erinnerungen ausgelöst wurden, aber plötzlich waren sie wieder da: Ich war zehn Jahre alt, vielleicht auch elf, groß für mein Alter und galt als frühreif. Ich konnte mit dem Begriff nicht wirklich was anfangen, woher denn auch? Ich war ein bisschen stolz auf mich, weil ich bei dem Kindertherapeuten, zu dem ich in der fünften Klasse geschickt worden war, beim Intelligenztest Ergebnisse vorweisen konnte, die sonst eher Achtzehnjährige erzielen. Dass „frühreif“ noch andere Bedeutungen als „hochintelligent“ haben könnte, war mir nicht bewusst.

Meine Mutter hatte mir kürzlich, obwohl ich noch platt war wie ein Bügelbrett, verboten, ohne T-Shirt draußen zu spielen und mich im selben Atemzug davor gewarnt, zu Männern ins Auto zu steigen, nur weil diese mir Süßigkeiten anboten. Männer mit Süßigkeiten seien potenziell gefährlich und kleine Mädchen potenziell gefährdet. Deswegen sei es die Pflicht kleiner Mädchen, vorsichtig zu sein und sich nicht in Situationen zu begeben, in denen Männer irgendwelchen Trieben, die durch leichtsinnige kleine Mädchen wachgerufen wurden, nachgeben konnten. Diese Pflicht erfüllten kleine Mädchen, indem sie nur vorschriftsmäßig und vollständig angezogen vor die Tür gingen und im Übrigen der Welt mit der gebotenen Vorsicht bzw. einer gehörigen Portion Misstrauen begegneten.

Was meine Mutter mir dummerweise nicht gesagt hatte, war, dass es auch Männer ohne Süßigkeiten und ohne freundliche Worte gab, die Schulkinder belästigten, obwohl diese noch gar nicht wussten, was Sexualität und sexuelle Übergriffe bedeuteten.

Ich war nicht nur groß und dick für mein Alter, sondern hatte ganz offensichtlich auch eine körperliche Präsenz, die nicht unbedingt zu einem zehnjährigen Mädchen passte. Und so kam es, dass ich regelmäßig von älteren Männern, allesamt Fremde, denen ich zufällig über den Weg lief, belästigt wurde. Sie rückten mir im leeren S-Bahn-Waggon auf die Pelle, betatschten mich und zwangen mich, meine Hand auf ihr bestes Stück – oder was sie dafür hielten – zu legen. Sie folgten mir im Schwimmbad in die Umkleidekabine und in der Bibliothek in die dunkle Ecke mit den Pferdebüchern und fassten mir an die flache Brust. Sie lauerten im Gebüsch vor dem Bahnhof, entblößten ihre Genitalien und schwenkten diese wild hin und her (glauben Sie es oder nicht, erst während ich dies schreibe, wird mir klar, dass sie dabei vermutlich masturbierten!). Vielleicht übertreibe ich gerade maßlos, abr in meiner Erinnerung raunten, pfiffen und kommentierten sie, kaum dass ich mich in der Öffentlichkeit weiter als fünf Meter von meiner Herde entfernt hatte.

Ich wusste nicht wirklich, worum es dabei ging. Noch viel weniger wusste ich, was ich falsch gemacht hatte. Ich sah zwar immer wilder und weniger angepasst aus als meine Altersgenossinnen, aber ich war weder aufreizend gekleidet noch wusste ich, was Aufreizen eigentlich ist.

Es lag aber natürlich auf der Hand, dass ich etwas falsch gemacht haben musste. Dass ich Männer ganz offensichtlich provozierte. Dass ich nicht wusste, wodurch und wie, war im Grunde auch nicht anders als der Rest meines Lebens zu der Zeit: Ich hatte grundsätzlich keine Ahnung, warum es mir nie gelingen wollte, einfach mal in der Menge unterzugehen und so zu sein wie alle anderen auch.

Mir war auch nicht klar – und meine Mutter hatte das auch nicht wirklich deutlich gesagt-, dass man gar nichts falsch machen muss, um manche Männer dazu zu bringen, Grenzen zu überschreiten und Schwächere zu belästigen bzw. missbrauchen. Denn dafür braucht es vielleicht gar keine bewusst ausgesandten Signale. Ein kleines Mädchen ohne Busen mit wilden Haaren triggert den einen oder anderen Mann möglicherweise einfach so. Oder er denkt ohnehin schon seit Stunden/Tagen/Monaten an Sex und und sieht plötzlich eine Gelegenheit. Weil er es kann. Oder muss. Und weil er glaubt, dass er damit ungeschoren davonkommt.

Ich habe meinen Eltern lange nichts von diesen Belästigungen erzählt. Erst ein oder zwei Jahre später, als der Abiturient, der mir Nachhilfe in Mathematik geben sollte, seine Finger nicht bei sich behalten konnte, habe ich mich endlich überwunden und hochnotpeinlich berührt darum gebeten, nicht mit diesem Jungen allein in der Wohnung sein zu müssen. Wohlgemerkt: Ich habe nicht darum gebeten, ihn zur Rede zu stellen, rauszuschmeißen oder anzuzeigen. Das alles wäre mir niemals eingefallen. Ich konnte nur nicht mehr mit der Angst vor seinen Übergriffen alleine sein. (Er ist dann übrigens auch nicht zur Rede gestellt, rausgeschmissen oder angezeigt worden, denn meinen Eltern war das Ganze noch peinlicher als mir.)

Gegen die fremden Männer in der S-Bahn, in der Bibliothek und im Gebüsch musste ich mich alleine wehren. Dachte ich wenigstens. Schließlich war es ja auch meine Schuld, wenn ich in solche Situationen geriet. Ich saß also in der S-Bahn nur noch im ersten Wagen genau neben der Tür zum Lokführerabteil, ging nicht mehr alleine ins Schwimmbad und lieh statt Pferdebüchern lieber Krimis aus der Bibliothek aus, weil in der Krimiecke einfach mehr Licht war. Ich war immer zu unsportlich, um jemanden in die Eier zu treten, aber gegen das Schienbein konnte ich nach kurzer Zeit ganz gut. Ich beschimpfte Männer, die mich belästigten, lautstark und drohte ihnen mit der Polizei. Auf dem S-Bahnhof mit dem Exhibitionisten im Gebüsch sorgte ich dafür, dass ich nicht alleine herumstand, sondern schloss mich Menschengruppen an. Eines schönen Tages war das Gebüsch dann auch gerodet und der Exhibitionist dauerhaft weg, aber bis dahin dauerte es Monate – offenbar hatten andere Frauen und Mädchen auch Hemmungen, sich stark zu machen und den Kerl aus dem Verkehr ziehen zu lassen.

Dass ich all diese Erlebnisse vergessen konnte – naja, vermutlich eher verdrängen oder abspalten – kommt mir heute höchst verdächtig vor. Dass ich nicht darüber sprechen konnte, finde ich traurig, aber es passt zu mir. Irgendwie. Mir passierten eben immer so Sachen, die anderen offenbar nicht passierten. Und meine Eltern wussten ja sowieso nicht, wie ihnen mit mir geschah; ich war immer froh, wenn ich sie nicht noch weiter in Verwirrung und eigene Schuldgefühle stürzen musste. Also entwickelte ich Wege und Strategien, mit den komplizierten Anforderungen meines jungen Lebens umzugehen. Das ging, denn ich war einfallsreich und entschlossen. Mir ist – zumindest soweit ich mich erinnere – nie etwas wirklich Schlimmes widerfahren.

Im Rückblick bin ich immerhin ein bisschen stolz auf  mich, weil ich wenigstens versucht habe, auf die Belästigungen, denen ich ausgesetzt war, laut und frech zu reagieren und mich zu wehren. Ob mich das allerdings stärker gemacht hat, weiß ich nicht. Manchmal fühle ich mich, als wäre eher das Gegenteil der Fall… vielleicht hat mich das Ganze auch zu viel Energie gekostet und auf Dauer geschwächt. Was ich aber weiß: Es tut gut, darüber zu sprechen und zu schreiben. Deshalb: #metoo.

4 Kommentare

  1. Puh. Der Text macht was mit einem. 🙁

    Vor allem macht er deutlich, wie sehr in Mädchen Schuldgefühle implementiert werden, wenn man ihnen frühzeitig verdeutlicht „wie sich zu verhalten/zu kleiden hätten”, damit sie nicht interessant werden für derartige Übergriffe. Denn, einerseits, wie Du schon schreibst, hilft es genau gar nicht. Andererseits sorgt es dafür, dass man sich als Mädchen/junge Frau immer selbstschuldig fühlt an dem Übergriff. Meint eine Mitschuld tragen zu müssen und daher still zu sein.

    So spielen Eltern & Co. wundervoll in das System in dieser Männer – ganz ohne es zu wollen.

    1. Danke dir. Ich finde, du bringst es da sehr gut auf den Punkt. Es fühlt sich wirklich so an, als wäre ich schon als Kind in eine Spirale geraten, aus der ein vollständiger Ausstieg fast unmöglich ist. Sofern man nicht auf eine einsame Insel umziehen möchte. Wie sehr mich diese Ereignisse geprägt haben, wird mir im Moment gerade täglich klarer…

  2. Danke für Deinen Bericht. Ende der 80er-Jahre, ein Typ auf Rennrad fragt mich, eine Zehnjährige beim Entenfüttern am Parkteich, ob ich zehn Mark verdienen will, indem ich in seine Hosentasche fasse. Ich kriege nur eine „nein“ raus und haue ab – und brauche Stunden, um überhaupt ansatzweise zu kapieren, worum es dabei ging, und mich zu trauen, meiner Mutter davon zu erzählen: „Mir ist da was Seltsames passiert…“ – Reaktion, erwartbar: sei vorsichtig, nicht so viel alleine unterwegs sein, halt nicht irgendwo an, wenn du mit dem Fahrrad im Park bist usw. usw. – Die typische hilfelose Reaktion der Frauen, Einschränkung der eigenen Freiheit, um sich selbst zu schützen. Heute wünsche ich mir, sie hätte mich in einem Selbstverteidigungskurs oder zum Kampfsport angemeldet. Als ältere Jugendliche und junge Erwachsene habe ich mir diese Situation so erklärt, dass da eben ein pädophiler Spinner, eine Ausnahme, unterwegs war. Heute weiß ich, dass es viel wahrscheinlicher ist, dass das ein ziemlich „normaler“ Mann war, der einfach nur gerade eine Situation sah, die er glaubte, ausnutzen zu können.

  3. Danke für den wichtigen und ehrlichen Text! Solche Texte sind wichtig! Ich habe in der vergangen Woche einige Artikel und Kolumnen gelesen, die wertvolle Gedanken und Überlegungen enthalten haben. Letztendlich habe ich versucht, meine Erfahrungen und Gefühle aufzuschreiben. Vielleicht hast du Lust meinen Text zu lesen. Und – viel wichtiger – deine Eindrücke zu meinen Gedanken mit mir zu teilen.
    https://frauk.blog/2017/11/16/vor-dem-gerichtstermin-pruefe-ich-mein-erscheinungsbild-metoo/

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