Steckt euch eure Lockerungen doch sonstwohin!

Der Trend zur sinkenden Inzidenz scheint ja zurzeit unaufhaltbar zu sein, vor allem in Hamburg, wo wir uns ganz kurz davor wähnen, die 100er-Grenze tatsächlich für fünf Tage in Folge zu unterschreiten. Das ist prinzipiell eine sehr gute Sache, das finde nicht nur ich, vor allem wenn die Zahlen dann auch weiterhin runtergehen. Was mich daran allerdings schon jetzt leise zweifeln lässt, ist das Überhandnehmen von Lockerungsdiskussionen und -ankündigungen auf allen Kanälen. Lockerungen grundsätzlich und Lockerungen für Geimpfte und Genesene.

Zwar bin ich schon seit März zweimal gegen Covid-19 geimpft, aber ich möchte die angekündigten Lockerungen von den Eindämmungsmaßnahmen für Geimpfte nicht. Also, nicht wahrnehmen bzw. ausnutzen, klar, aber im Grunde wäre mir noch wichtiger, dass diese Lockerungen gar nicht erst beschlossen werden.

Alleine durch meine recht behaglichen Lebensumstände und den bereits vorhandenen Impfschutz fühle ich mich bereits dermaßen privilegiert, dass ich auf gar keinen Fall weitere Vergünstigungen in Anspruch nehmen möchte. Jedenfalls nicht, solange so viele Menschen in einer weitaus ungemütlicheren Lebenssituation sind als ich.

Ich glaube nämlich an Solidarität mit den Schwächeren und weniger Glücklichen der Gesellschaft.

Der wesentliche Grund für das Sinken der Neuinfektionszahlen ist ja wohl, so sagt die Wissenschaft, die zum Glück inzwischen schnell wachsende Impfquote. Trotz der Querdenker und Impfgegner und der anderen Trottel, die sich für Widerstandskämpfer halten. Vielleicht wären diese Menschen ja etwas dankbarer für ein Angebot zur Impfung, wenn das Grauen von Covid-19 und die sich abzeichnenden Folgen für die einzelnen Betroffen wie auch die Gesamtgesellschaft und natürlich auch „die Wirtschaft“ jetzt gerade noch etwas deutlicher sichtbar wären. Und nicht zunehmend aus den Nachrichten und den Köpfen verdrängt würden durch die eigenartige Diskussion um Lockerungen bei immer weiter aufgeweichten Bedingungen und Richtwerten.

Schön, dass die täglichen Zahlen gerade nicht mehr ansteigen, sondern sogar langsam sinken. Angesichts der steigenden Anzahl an Geimpften und Genesenen sowie zahlreichen, wenn auch zum großen Teil halbherzigen Maßnahmen, mit denen wir uns seit Monaten arrangieren, wäre es aber auch extrem gruselig, wenn es nicht so wäre. Jedoch: Die Zahlen sinken nur langsam, selbst optimistische Wissenschaftler und Modellierer gehen davon aus, dass wir – sofern nicht Unvorhergesehenes passiert, was wieder alles verzögert – erst in einigen Wochen wieder bei einer Inzidenz von 50 sein werden. Trotz Impfungen und Schnelltests und Ausgangsbeschränkungen.

In meinen Augen sollten wir weniger von geplanten Lockerungen für Geimpfte und Genesene sprechen als davon, dass noch immer täglich Hunderte Menschen an Covid-19 sterben. Dass Tausende um ihr Leben kämpfen und noch viel mehr Menschen seit über einem Jahr in mehr oder weniger kompletter freiwilliger Isolation leben, um sich und andere zu schützen. Dass das Gesundheitswesen sich seit über einem Jahr durchgehend so dermaßen überanstrengt, dass eigentlich niemand weiß, wie es sich jemals davon erholen soll. Und das Gesundheitswesen besteht zum größten und entscheidenden Teil aus Menschen.

Es sind jetzt in Deutschland über 80.000 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben. Wer kann, grob überschlagen, hochrechnen, wie viele Zugehörige davon betroffen sind? Betroffen auf eine Weise, die sie vielleicht für den Rest ihres Lebens prägt und möglicherweise beeinträchtigen wird. Selbst wenn wir die Zahl niedrig mit durchschnittlich zehn Zugehörigen pro Corona-Opfer ansetzen, sind wir schon jetzt fast bei einer Million Menschen. Eine Million Menschen, die einen durch die Umstände erschwerten Trauerprozess durchleben müssen. Weil sie sich nicht verabschieden konnten, von Sterbenden und Gestorbenen. Weil sie nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander trauern konnten, weder bei der offiziellen Trauerfeier noch im Privaten. Oder weil sie nicht um ihre geliebten, aber alten Großeltern trauern, was ja auch sonst in jungen Jahren nicht allzu selten vorkommt, sondern viel zu früh um Mama und Papa, die jung und gesund waren und trotzdem einen schweren/tödlichen Verlauf hatten.

Viele dieser Hinterbliebenen sind noch nicht geimpft, manche vielleicht immerhin genesen, weil sie ebenfalls infiziert waren. Ebenfalls noch nicht geimpft dürfte der Großteil der jüngeren Menschen sein, deren berufliche Existenz sich im Laufe des letzten Jahres in Luft aufgelöst hat. Sie jobben jetzt vielleicht beim Lieferservice oder im Impfzentrum, aber ihr beruflicher Lebenstraum, das kleine Café oder die künstlerische Tätigkeit, liegt in Trümmern. Dafür machen sie jetzt schlechtbezahlte Jobs, in denen sie sich nicht eigenverantwortlich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen können.

Und diese Menschen sollen uns Geimpften dabei zusehen, wie wir nach und nach wieder so etwas wie ein normales Leben führen??? Echt jetzt?

Ich persönlich finde es einfach unanständig, Lockerungen irgendeiner Art einzuführen, solange nicht wirklich jede und jeder die Möglichkeit zur Impfung erhalten hat. Das wird noch ein paar Wochen dauern, aber die Zeit sollten wir nach einer soooo langen Periode des Aussitzens, Abwartens und Nichtdurchsetzens von beschlossenen Maßnahmen wirklich gerne investieren.

Und bis es so weit sein kann, dass jede und jeder geimpft sein kann, sollten wir vielleicht gar nicht so viel von den geplanten Lockerungen sprechen und schreiben. Sondern lieber darüber, dass das verf*ckte Virus noch immer sehr präsent ist, in unserem Land und auch darüber hinaus, und dass es weiterhin Menschen umbringt. Menschen, die unseren Schutz und unsere Solidarität und Geduld verdient gehabt hätten beziehungsweise noch immer verdienen.

8 Kommentare

  1. Danke und Ja! Ja! Ja!
    Liebe Bettina, wieder einmal so treffende und wahre Worte.
    Viele Grüße und alles Gute, Martina
    (auch geimpft und nichts verändernd an meinem Verhalten, nur etwas beruhigter und dankbar)

  2. Danke.

    Genau sehe ich das auch. Bin seit Januar (!) 2020 in selbst Isolation weil ich niemanden anstecken möchte. Selber wurde ich höchstwahrscheinlich Covid auch nicht überleben, aber der Gedanke niemanden anstecken zu wollen ist tatsächlich noch stärker.

    Wo bitte ist das Problem noch ein paar Monate maximal zu warten bis alle ein impf-Angebot haben? Die Abertausenden die in der Zeit, durch etwas mehr Rücksicht von allen, keine Langzeitschäden bekommen und/oder gar elendig krepieren sind dass mehr als wert.

    Verstehe die Debatte jetzt schon Lockerungen zu wollen überhaupt nicht. ‍♂️

    1. Danke für deinen Zuspruch – ich wünsche dir ein gutes weiteres Durchhalten und dass der Scheiß bald zu einem Ende kommt.

  3. Sorry, ich sehe das überhaupt nicht so. Es ist in meinen Augen falsch empfundener Neid, wenn ich nicht möchte dass die Geimpften ihre Rechte zurückerhalten. Und nur als ein Beispiel von vielen: wäre es nicht besser für den ungeimpften jungen Menschen, wenn er endlich statt unbefriedigenden 450€ Lieferjobs wieder sein Lebenstraum-Cafe öffnen dürfte ? Und nein, ich bin noch nicht geimpft. Aber ich würde es schön finden wenn jetzt schon Menschen anfangen würden dafür zu sorgen, dass Kneipen, Restaurants, Kinos und Theater auch dann noch existieren wenn ich dann wieder darf…

    1. Danke schön für deinen Beitrag und deine Sichtweise. Anderen etwas gönnen zu können, was dir selbst noch nicht (wieder) möglich ist, ist auf jeden Fall ein schöner Zug.
      Unter „normalen Umständen“ würde ich das auch so sehen (Neid, ob richtig oder falsch empfunden, ist echt nicht mein Anliegen), aber im Moment stehe ich halt auf dem Standpunkt, dass jede einzelne Neuinfektion eine zu viel ist, vor allem wenn sie dann ins Krankenhaus und womöglich auch noch auf die Intensivstation führt. Und ich gehe einfach mal davon aus, dass Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt weitere Neuinfektionen zur Folge haben. Dem ungeimpften Menschen wünsche ich, sein Lebenstraum-Café erst dann wieder oder neu zu eröffnen, wenn keine Gefahr mehr besteht, dass er es in Kürze wieder schließen muss. Und den Theatern wünsche ich, dass sie erst wieder Spielbetrieb planen dürfen bzw. müssen, wenn auch ganz wirklichwirklich davon auszugehen ist, dass das Geplante dann auch aufgeführt werden darf.
      Dass es noch Kultur und Gastronomie gibt, wenn die Pandemie dann irgendwann mal an Bedeutung verliert, wünschen wir uns gemeinsam, okay?

  4. Da kann man (selbst als nicht-gläubiger mensch) nur „Amen“ sagen. Alles gesagt was eigtl. Selbstverständlich sein sollte. Danke ☺️

Schreibe einen Kommentar zu Bettina Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.