Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Teil 12.

„Jette?“

„Ja, Jehan?“

„Schläfst du?“

„Bis eben ja…“

„Ich habe Hunger!“

„Dann iss Trockenfutter!“

„Das ist aber alle.“

„WAS???“ Von einer Millisekunde auf die andere war Jette hellwach und warf beunruhigte Blicke auf ihren Bruder, der – ebenfalls sehr beunruhigt – vor ihr stand. „Wir haben nichts mehr zu essen?“

„Nur noch Katzengras“, gab Jehan zurück, „aber das schmeckt nicht und ich habe schon an vier verschiedenen Stellen auf den Teppich gekotzt.“

„Dann muss der Mensch uns füttern!“, ordnete Jette an und schaute kurz auf die Uhr, die sie aus ihrer Bauchtasche zog. „Egal, ob es drei Uhr morgens ist. Hast du schon nachgeguckt, ob er sehr fest schläft?“

„Er macht den Eindruck“, berichtete Jehan, „jedenfalls hat er schon lange nicht mehr das Licht an- und ausgeschaltet, auf dem Handy rumgedaddelt oder sich fluchend von einer Seite auf die andere gewälzt.“

„Hm“, machte Jette. „Dann wollen wir doch mal sehen…“

Und schon sprangen in der Dunkelheit des Wohnzimmers zwei weiße Katzen vom Sofa und marschierten ins nebenan gelegene Schlafzimmer, dessen Tür zum Glück einen Spalt offenstand. Da lag der große freundliche Mann, quer über das Bett ausgebreitet, den Kopf unterm Kissen, die Decke zerwühlt. Aber er atmete ruhig und regelmäßig.

„Hallo!“, rief Jette, während sie elegant aufs Bett hüpfte und sich vor der oberen Hälfte des großen freundlichen Mannes aufbaute. „Hallo! Wir verhungern! MIIIIIAAAAUUUUU!“

„Was machst du denn?“, fragte Jehan, der mit besorgtem Blick vor dem Bett stand und sich nicht näher heranwagte. „Sei bloß vorsichtig. Du weißt: Schlafende Menschen sind unberechenbar!“

Jette hatte dem großen freundlichen Mann inzwischen sehr effektiv das Kopfkissen vom Kopf gezerrt, stand jetzt auf seiner Schulter und rief direkt in sein Ohr: „Hallo! Aufwachen! Wir verhungern! Miau!“

Der große freundliche Mann brummte irgendetwas Unverständliches und drehte sich stöhnend auf die andere Seite, wo er sich wieder das Kissen über den Kopf zog. Jette hüpfte leichtfüßig aus der Gefahrenzone und war direkt wieder an ihm dran, noch bevor er wieder richtig zur Ruhe kommen konnte. Nun steckte sie ihm die Pfote ins Ohr, kitzelte ihn ein bisschen und rief wieder (und ziemlich laut): „Aufwachen!“

„Geh weg!“, sagte der große freundliche Mann verschlafen und machte eine abwehrende Handbewegung.

„Na gut“, sagte Jette, „du hast es nicht anders gewollt.“ Und schon kletterte sie auf den Kopf des Mannes, schob das Kissen zur Seite, leckte ihm die Stirn und versuchte, mit einer Kralle sein Augenlid hochzuziehen.

Nun schreckte der große freundliche Mann hoch. Er klang allerdings nicht besonders freundlich, als er Jette von seinem Kopf schüttelte und sich hochrappelte. „Los, raus hier!“

Vor Schreck liefen die beiden Katzen tatsächlich aus dem Zimmer – der große freundliche Mann im Halbschlaf war nichts, worunter sie eingeklemmt werden wollten. Bevor sie diesen taktischen Fehler bemerkten und reagieren konnten, hatte der Mann schon die Tür hinter ihnen geschlossen und ging wieder ins Bett.

„Verdammt!“, murmelte Jette. „Ein Anfängerfehler.“

„Mepp!“, stimmte ihr Jehan zu. „Was machen wir jetzt?“

Jette überlegte kurz und verkündete dann: „Wir gehen nach draußen und fangen uns eine Maus.“

„Eine Maus?“, wiederholte Jehan entsetzt. „Wie das denn? Und vor allem: Wozu?“

„Um sie zu essen, natürlich“, erklärte Jette, nicht sehr geduldig. „Katzen essen schon seit Jahrhunderten Mäuse, wenn das Trockenfutter mal alle ist. Und vorher fangen sie sie.“

„Aber wie geht das?“, fragte Jehan verwirrt. „Ich habe noch nie eine Maus gefangen. Du vielleicht?“

„Ähm… ja… nun… nicht direkt. Aber ich habe schon ganz viele Videos gesehen. Es ist ganz einfach: Anschleichen, belauern, draufspringen und töten. TÖTEN!“

„Töten?“, fragte Jehan entsetzt. „Aber Jette! Wir sind Sofakatzen, keine Killer!“

„Du vielleicht“, sagte Jette mit Überzeugung. „Aber ich bin ein Raubtier. Das ist meine Natur, ich trage es in mir!“

„Du trägst ein Raubtier in dir?“ Ungläubig betrachtete Jehan seine zierliche weiße Schwester in ihren rosa Pumps. „Dann bist du wirklich eine Meisterin der Tarnung!“

„Natürlich“, bestätigte Jette. „Ich glaube, du fängst gerade an, das ‚Konzept Katze‘ zu verstehen. Los jetzt, wir gehen raus!“

An ihrem leeren Futternapf vorbei liefen die beiden Katzen in die Küche, wo Jehan schnell die Blende vor dem Fluchttunnel abschraubte. Jette hatte derweil die Taschenlampen-App an ihrem Smartphone gefunden und ihre rosa Pumps gegen rosa Sneakers ausgetauscht. Blitzschnell huschte sie in den Tunnel, Jehan folgte ihr mit einem kleinen Sicherheitsabstand und etwas zögerlich. Er hatte kein wirklich gutes Gefühl bei der Sache, aber natürlich kam es nicht in Frage, seine Schwester alleine in die dunkle Nacht hinausgehen zu lassen. Schon gar nicht, wenn sie es tatsächlich schaffen sollte, eine Maus zu erlegen… schließlich hatte er noch immer großen Hunger.

Schnell hatten die beiden Abenteurer*innen den Fluchttunnel durchquert und kamen unter dem Gebüsch wenige Meter vorm Haus hervor. Es war ganz schön dunkel in diesem Draußen und auch nicht sehr warm. Als Jette die Taschenlampe ausmachte, wurde es noch dunkler. Beide Katzen sahen sich um und schauderten ein wenig.

„Und?“, fragte Jehan leise, „wo sind nun die Mäuse?“

„Moment!“, sagte Jette. „Wir müssen entweder die Witterung aufnehmen oder ganz leise sein und horchen, ob irgendwo eine Maus vorbeikommt.“ Sie hob ihre Nase in die Luft und schnüffelte aufgeregt. „Irgendwo kifft hier jemand“, stellte sie dann fest, „und zwar ein Zeug, das so stinkt, dass man gar nichts anderes mehr riechen kann. Also lauschen wir.“ Sie stellte die Ohren auf und lauschte. Und lauschte.

„Und?“, fragte Jehan aufgeregt, „hörst du was?“

„Pssssst!“, machte Jette, „nun sei doch mal still!“

„Mepp“, sagte Jehan etwas beleidigt und zog sich rückwärts in den Schatten des Gebüschs zurück, um sich irgendwo ein gemütliches Plätzchen zum Lauschen und Wittern zu suchen. Dabei stieß er zu seinem Entsetzen mit etwas zusammen. Etwas? Jemandem! Boing.

„Jette!“, rief er aufgeregt. „Guck mal. Eine Maus! Aua, das pikst! Seit wann haben Mäuse Stacheln? Ist das überhaupt eine Maus?“

Jette rannte die wenigen Meter zu ihm hinüber und betrachte die stachelige Kugel, mit der Jehan kollidiert war. „Nein“, beschloss sie dann, „das ist ein Igel.“

„Ein Igel?“, fragte Jehan. „Kann man den auch essen?“

„Ich bin nicht sicher“, gab Jette zurück. „Kann mich nicht erinnern, schon mal bei Chefkoch oder so ein Rezept für Igel gesehen zu hab… obwohl: Mettigel! Käseigel!“

Vorsichtig streckte sie die Pfote aus und stupste die stachelige Kugel an. „Hallo? Kann man dich essen?“

„Bist du bescheuert, du Wohlstandspüppi?“, fragte der Igel wütend und starrte Jette aus ärgerlichen kleinen Augen an. „Sehe ich vielleicht aus wie ein Käseigel? Ich bin hier selber auf der Jagd. Seht zu, dass ihr aus meinem Revier verschwindet, bevor ich euch mit meinen Stacheln pikse oder euch zu Käsekatzen verarbeite!“

„Aber, aber, aber…“, setzte Jette etwas eingeschüchtert an. „Hier unter diesem Gebüsch ist der Eingang zu unserem Tunnel. Wir müssen doch wieder rein!“

„Haut ab!“, schrie der Igel entnervt und plusterte sich mit seinen Stacheln so groß wie möglich auf. „Und hört auf zu labern. Ihr verscheucht ja alle Beutetiere.“

„Aber unser Tunnel…“, sagte Jehan unglücklich. „Sie verstehen, Herr Igel. Es gibt sonst keinen anderen Weg zurück in unsere Wohnung. Und wir schlafen doch immer auf dem Sofa. Da sind auch unsere Decken und Kissen.“

„Ihr schlaft immer auf dem Sofa mit Decken und Kissen?“, fragte der Igel höhnisch. „Na, heute vielleicht mal nicht. Ich glaube, ich setze mich mal in euren Tunneleingang und mache ein Nickerchen. Bis später, Freunde!“

Entsetzt beobachteten die Katzen, wie der Igel in ihren Tunneleingang kroch, sich gemütlich einrollte, seine Stacheln aufstellte und offensichtlich in der nächsten Zeit nicht weichen wollte.

„Jette“, sagte Jehan unglücklich. „Was machen wir denn jetzt?“

„Wir warten!“, ordnete Jette an. „Irgendwann wird der Blödigel schon nach Hause gehen.“

„Aber ich muss aufs Klo…“

„Kannst du das nicht hier draußen erledigen?“

„HIER DRAUSSEN? Wo mir jeder zusehen kann? Nein, so kann ich nicht.“

„Dann musst du wohl warten“, sagte Jette. „Es wird ja bald hell und dann wacht der große freundliche Mann auf und sieht, dass wir nicht da sind. Und dann rufen wir nochmal nach ihm, so laut wir können. Er wird uns schon hören und dann lässt er uns rein und gibt uns Frühstück.“

„Frühstück…“, wiederholte Jehan schwärmerisch. „Hoffentlich wacht er bald auf. Ich habe echt Kohldampf. Und ich muss mal. Und ich mag dieses Draußen nicht.“

„Es ist nicht so schön, wie ich erwartet hatte“, gab Jette zu. „Ein bisschen unheimlich irgendwie. Aber das liegt sicher an der Dunkelheit. Zum Glück habe ich ja meine Taschenlampen-App. Komm, Jehan, wir setzen uns hier unter die Bank und googeln ein paar Rezepte mit Igeln!“

So. Fortsetzung folgt, aber später. In diesem Moment beginnt offiziell meine Sommer-Blogpause, die voraussichtlich vier Wochen dauern wird. Solange müssen Jette und Jehan unter der Bank ausharren und der Igel im Tunneleingang (hoffentlich klemmt er sich da nicht fest und hoffentlich reicht Jettes Akku…).

Ihnen einen schönen Sommer und bis bald!

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