Von Dithmarschen nach Oberneuland. Die Geschichte von Jette und Jehan. Teil 10.

„Nun überhol doch endlich diesen Wohnwagen!“, schrie Jette laut und aufgeregt, während sie die pink lackierten Vorderkrallen durch die Gitterstäbe ihrer Transportbox streckte und versuchte, den großen freundlichen Mann auf dem Vordersitz zu erreichen, um ihrer Empfehlung tatzgreiflichen Nachdruck zu verleihen.

„So wird das doch alles nichts“, murmelte Jehan, der äußerlich unaufgeregt, aber innerlich selbst am Steuer, in seiner Transportbox hockte, „du kannst dich doch nicht immer so abdrängeln lassen!“

„Wisst ihr was?“, fragte der große freundliche Mann nach hinten, ohne sich in seiner Weise, das kleine Auto mit seiner kostbaren Fracht über eine Autobahn, die voller Verrückter zu sein schien, von Hamburg nach Bremen zu fahren, besonders beirren zu lassen. „Ihr seid echt beschissene Beifahrer!“

„Beifahrer*innen“, verbesserte ihn Jette klugscheißerisch. „So viel Zeit muss sein.“

„Ich habe doch gesagt, du sollst mich fahren lassen“, maulte Jehan. „Dann wären wir schon längst zu Hause. Auf unserem eigenen Sofa.“

Der große freundliche Mann beendete ein Überholmanöver, bei dem das kleine Auto Geräusche gemacht hatte, als würde es demnächst abheben, und ordnete sich wieder auf der rechten Spur der Autobahn ein. Erstaunlich, wie lang sich die Strecke zwischen Hamburg und Bremen anfühlen konnte, wenn man zwei motzende Katzen im Auto hatte.

„Kann ich ein Eis?“, fragte Jette nun und wiederholte die Frage gleich noch einige Male: „Kann ich ein Eis? Kann ich ein Eis? Kann ich ein Eis?“

Der große freundliche Mann überlegte, ob es sich lohnen könnte, kurz anzuhalten und die Ohrstöpsel aus seinem Kulturbeutel zu holen.

„Sind wir bald da?“, fragte Jehan in leidendem Ton. „Ich glaube, mir wird schlecht.“

„Kann ich dann auch dein Eis?“, fragte Jette.

„Wir sind bald da“, versicherte der große freundliche Mann, „und ich bemühe mich, ruhig zu fahren, Jehan. Dir wird nicht schlecht, wirklich nicht.“

„Mepp“, erwiderte Jehan und fing an zu überlegen, ob er es wohl schaffen würde, durch die Gitterstäbe der Box bis auf den Fahrersitz zu kotzen.

Der große freundliche Mann gab Gas und bemühte sich, nicht hinter sich zu schauen. Was schwierig war, denn Jette fragte noch immer mit monotoner Stimme nach Eis und Jehan jammerte und meppte leise vor sich hin. Und nun hörte er auch noch Musik aus dem hinteren Teil des Autos: Fuckin‘ perfect von P!nk.

„Oooops!“, sagte Jette überrascht, „da habe ich doch glatt vergessen, mein Smartphone auf lautlos zu stellen.“

„Seit wann hast du ein Smartphone, Jette?“, fragte der große freundliche Mann und beobachtete im Rückspiegel, wie Jehan anfing, sich vor und zurück zu wiegen und dabei die allseits beliebten Zwerchfell-Pump-Geräusche zu machen.

„Entschuldige“, sagte Jette, „da muss ich rangehen.“ Sie zog sich mit dem – natürlich pinkfarbenen – Smartphone, das sie aus ihrer Bauchtasche gezogen hatte, in den hinteren Teil des Transportkorbes zurück und sprach leise und hastig in ein Headset.

„Manchmal ist das hier schlimmer als bei Alice im Wunderland“, murmelte der große freundliche Mann leise, aber ihm hörte niemand zu, denn Jehan bemühte sich gerade darum, durchs Gitter in einem möglichst großen Radius sein Frühstück zu erbrechen, und Jette telefonierte weiterhin mit wachsender Lautstärke. Der große freundliche Mann konnte nicht viel verstehen, aber einzelne Wortfetzen kamen auch bei ihm an: „große Lieferung unbeaufsichtigt“, „Super-Gewinnspanne“ und „ich habe die rosa Pumps schon bestellt“.

„Ööööörkkksssss“, machte Jehan noch ein letztes Mal, dann schüttelte er sich und verkündete: „Jetzt will ich auch ein Eis. Und Pipi, also ich muss Pipi.“

Der große freundliche Mann verkniff sich jeden Kommentar, wechselte wieder auf die linke Spur und trat aufs Gas. Der kleine tapfere Wagen machte einen Satz nach vorne und fuhr, so schnell er konnte. Also ungefähr 120 Stundenkilometer, wobei er aber Geräusche wie beim Durchbrechen der Schallmauer produzierte.

Jette beendete ihr Telefonat, kam wieder nach vorne an die Gitterstäbe und beschwerte sich: „Hier riecht es nach Katerpipi. Jehan, ich habe da möglicherweise ein passendes Mittel für dich und mache dir einen echten Freundschaftspreis!“

„Mepp!“, sagte Jehan und pinkelte in aller Ruhe zu Ende.

„Es ist wirklich schön, euch wiederzusehen“, sagte der große freundliche Mann. „Ich habe euch so vermisst, das war schrecklich. Das Kotzen und Pinkeln habe ich allerdings ein bisschen vergessen, während ich weg war, das war ganz schön.“

„Daran gewöhnst du dich schon wieder“, versicherte ihm Jette. „Wir sind in der Hinsicht sehr zuverlässig.“

Endlich fuhren sie von der Autobahn ab, drosselten das Tempo (geringfügig) und hatten nun nur wenige Kilometer bis zum heimischen Sofa vor sich.

„Gleich sind wir da“, sagte der große freundliche Mann.

„Wird auch Zeit“, nörgelte Jette und rüttelte ein bisschen an den Gitterstäben des Transportkorbes.

„Dann hätte ich jetzt gerne mein Eis!“, rief Jehan und rüttelte mit.

„Ich kann euch auch zurück nach Hamburg bringen“, schlug der große freundliche Mann vor. „Zu Lotti und Leo.“

„Lotti“, murmelte Jehan träumerisch, „Lotti…“

„Nein, vielen Dank“, unterbrach ihn Jette mit fester Stimme. „Wir wollen jetzt nach Hause. Mit dir. Los jetzt, das schaffen wir noch. Hoffentlich hast du genug Essen eingekauft und nichts vergessen – ich habe dir doch die Shoppingliste geschickt, oder? Du musst uns nur noch schnell reintragen und unsere Koffer auspacken, einschließlich der Schuhkartons, versteht sich. Und dann machen wir es uns gemütlich.“

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.