Wildes Date im Sommerloch

„Ein Wildschwein also“, stellte Frl. Lotte Miez fest und ließ die Zeitung sinken. „Weiß Jehan das schon?“

„Eher nicht“, vermutete Frl. Leonie Mau, die wie wild auf ihrem Smartphone herumtippte. „Wahrscheinlich fährt sein Regionalzug gerade durch eine Gegend ohne Empfang. Davon gibt es in Brandenburg ja einige. Jedenfalls antwortet er nicht auf meine Nachrichten.“

„Er wird sicherlich sehr enttäuscht sein, wenn in den Wäldern von Kleinmachnow keine fesche Löwendame auf ihn wartet, sondern nur eine Familie hungriger Wildschweine. Ich habe ihm ja gesagt, er soll die Brille aufsetzen, aber erst ist halt einfach zu eitel.“ Lotti schüttelte verständnislos den Kopf und rollte sich dann wieder auf der Sofalehne zusammen, vorsichtig natürlich, denn die Sofalehne war nicht sehr bereit.

„Auf dem Video hätte er auch mit Brille nicht wirklich was erkennen können“, erwiderte Leo grinsend, „aber so ist das beim Online-Dating eben. Man kann sich niemals sicher sein, dass die Leute wirklich so aussehen wir auf ihren Fotos und in ihren Videos. Oder dass sie halbwegs den Beschreibungen entsprechen, die sie in ihr Profil eingetippt haben. Im Gegenteil: Wenn jemand schreibt, so wie diese ‚Löwin“, sie sei ganz wild und ungezähmt und warte auf einen ganzen Kerl, der keine Angst vor ihr habe, dann kann man ja schon froh sein, beim Date wenigstens einem Wildschwein gegenüberzustehen und nicht etwa einem Meerschweinchen.“

„Dann müsste Jehan sich wenigstens nicht vor der Rückfahrt noch um sein Abendessen kümmern“, sagte Lotti und leckte sich die Mundwinkel. „Das ist am Abend in Kleinmachnow vielleicht gar nicht so einfach.“

„Nur solange das Wildschwein nicht beschließt, dass Jehan wie Abendessen aussieht“, befand Leo und leckte lässig an ihrer ausgestreckten Hinterpfote. „Er ist schon ganz schön bescheuert, nach den paar kurzen Nachrichten im Chatportal direkt seinen Schlips umzubinden und in den Zug nach Brandenburg zu steigen.“

„Jette hätte ihm das nicht erlaubt“, behauptete Lotti. „Sie hätte ihm schön den Marsch geblasen, seinen Schlips versteckt und seine Kreditkarte gesperrt. Oder das WLAN-Passwort geändert.“

„Jette hätte die Löwin – oder was immer sich hinter dem Profil bei Katinder verbirgt – bestimmt dazu gebracht, nach Bremen zu kommen für das erste Date. Und dann hätte sie der Dame erst einmal auf den Reißzahn gefühlt.“

„Die arme Löwin!“, fand Lotti. „Die hätte sich hinterher wahrscheinlich gewünscht, sie wäre ein Wildschwein und könnte in einer Rotte untertauch…“

„Ruhe!“, rief Leo aufgeregt, „das Telefon klingelt. Das ist Jehan. Ja, hallo, Jehan?“

„Mach den Lautsprecher an!“, rief Lotti begeistert, „ich will sofort alles hören! Jehan, ist alles okay?“

„Hallo Fräuleins!“, rief eine verzerrte, blechern klingende aus dem Smartphonelautsprecher. „Könnt ihr mich hören?“

„Ja, wir hören dich“, gab Leo geschäftsmäßig zurück. „Over.“

„Jehan!“, kreischte Lotti, die vor Aufregung von der Sofalehne gekullert war. „Wo bist du? Hast du die Löwin gesehen?“

„Ob ich die Löwin gesehen habe?“, kam es aus dem Lautsprecher. „Ob ich die Löwin gesehen habe? Und ob ich die Löwin gesehen habe.“

„Wirklich?“, fragte Lotti atemlos, die sich wieder aufgerappelt hatte und jetzt direkt vor Leo stand, die immer noch das Smartphone hochhielt. „Und? Ist sie gefährlich?“

„Gefährlich?“, fragte Leo mit fast fester Stimme. „Aber doch wohl nicht gefährlicher als ich?“

„Bestimmt ist sie gefährlich“, erwiderte der blecherne Jehan, der ein bisschen, wirklich nur ein bisschen großkotzig klang. „Aber nicht für mich. Mich findet sie toll.“

„Hast du mit ihr gesprochen?‘“, wollte Lotti aufgeregt wissen. „So richtig von Angesicht zu Angesicht?“

„Kam sie dir vielleicht ein bisschen struppig für eine Löwin vor und hatte sie eine ziemlich große Nase mit Steckdose vorne dran?“ erweiterte Leo die Frage, die sich wieder gefasst hatte.

„Genau“, stimmte Jehan ihr zu. „Da habe ich sofort mein Ladekabel eingestöpselt. Und dann hat sie mir ihre Kinder gezeigt. Allerliebst. Obwohl… ich glaube, da ist kein Löwenvater im Hintergrund. Eher ein Tiger oder so was…“

„Sind sie gestreift?“, erkundigte sich Leo interessiert. „Vielleicht ein bisschen so wie Frischlinge, also kleine Wildschweine?“

„Ja, ein bisschen“, stimmte Jehan ihr zu, nachdem er kurz überlegt hatte. „Glaubst du, sie hatte mal was mit einem Keiler? Ist das nicht unnatürlich?“

„Nur für eine Löwin, nicht für eine Wildsau“, murmelte Leo. Laut sagte sie: „Ach was, wir wollen doch divers und tolerant sein und jede Art der Liebe respektieren. Und du bist ja auch nicht direkt ein Löwe.“

„Aber doch ein Raubtier!“, widersprach Jehan vehement. „Erst gestern, da habe ich den großen freundlichen Mann wieder gebissen. Wie ein richtiger Löwe mit richtigen Zähnen. Roooaarrrr.“

„Du bist so mutig und so stark“, himmelte Lotti das Smartphone an. „Hattet ihr denn ein richtiges Date?“

„Noch nicht, leider!“, musste Jehan zugeben. „Nachdem irgendjemand das Video von ihr von Katinder geleakt hat, ist ja die halbe Welt auf den Beinen und auf der Suche nach ihr. Sie muss also erst einmal ein paar Tage untertauchen, bis ein neues Sommerloch-Tier auf der Bildfläche erscheint.“

„Untertauchen?“, fragte Lotti interessiert. „Das könnte sie doch bei dir in Bremen machen?  Da sucht niemand nach ihr und die Menschen sind so daran gewöhnt, alle möglichen Tiere zu sehen, wenn sie in die Natur gehen, dass die Löwin gar nicht auffallen würde.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Jehan, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. „Aber wie kriegen wir sie nach Bremen? Eine Löwin kann doch nicht einfach in einen Regionalzug steigen…“

„Nein, sie muss vorher eine Fahrkarte kaufen“, bestätigte Lotti, „aber das kann sie online erledigen.“

„Und sie muss sich verkleiden“, schlug Leo hilfreich vor. „Vielleicht als Wildschwein? Die meisten Züge sind voll mit Wildschweinen und nie sagt jemand was. Das behauptet zumindest die dicke freundliche Frau.“

„Hm“, sagte Jehan, „das klingt gar nicht so schlecht. Sie müsste nur einen Babysitter finden, denn es ist ziemlich schwer, mit elf Kindern unterzutauchen. Sogar in Bremen. Würdet ihr vielleicht…?“

„Oh“, rief Lotti, „ich glaube, es hat an der Tür geklingelt. Vielleicht wird unser Katzenfutter geliefert. Ich muss leider los. Tschüß, Jehan, bis bald!“

„Die Verbindung ist leider ganz schlecht, Jehan“, rief Leo, die ernstlich beunruhigt klang. „Ich glaube, mein Sofa fährt gerade in einen Tunnel. Wir legen besser auf. Bis später, Jehan, viel Erfolg bei der Babysittersuche!“

Schnell drückte sie das Gespräch weg und legte das Telefon zur Seite.

„Elf Kinder babysitten? Wildschwein-Kinder? Du meine Güte, Lotti, das wäre fast schief gegangen!“

„Aber nur fast“, murmelte Lotti, die nach der Anstrengung des Telefongesprächs die Augen geschlossen hatte, um sich ein wenig zu erholen. „Elf Kinder…. Niemals nicht. Aber ich bin sehr gespannt, was aus Jehans Date wird.“

„Oh ja“, stimmte Leo ihr zu und rollte sich auf ihrem Kissen zusammen, um ein kleines Schläfchen zu machen. „Und das erfahren wir bestimmt heute Abend im Brennpunkt nach der Tagesschau.“

 

 

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