Zum fünften Todestag: Lieber Papa.

Lieber Papa,

morgen, am 28. September 2020, bist du schon fünf Jahre tot. Dein Todestag war auch ein Montag und ich weiß noch alles ganz genau: Wie ich dich am Sonntag vorher ein letztes Mal im Hospiz besuchte, du warst bereits sehr weit weg und ganz still. Die Unruhe, die in den Tagen zuvor trotz der palliativen Sedierung noch spürbar war und sich in Armbewegungen und lautem Stöhnen äußerte, war fast verschwunden. Du sahst schon klein, kühl und rund um die Nase ziemlich grau aus. Das Todesdreieck, so sagt man, ein sehr sichtbares Zeichen dafür, dass ein Körper langsam herunterfährt.

Ich hatte eigentlich schon in der Nacht zum Sonntag damit gerechnet, einen Anruf zu bekommen, aber nun kam er in der Nacht zum Montag. Du warst gegen halb zwei ganz friedlich gestorben. Es war niemand bei dir und das wolltest du wohl auch so haben, weil es für dich leichter war. Trotzdem: Mit allem, was ich heute über das Sterben und auch über die Abläufe im Hospiz weiß, wäre ich an dem Abend nicht nach Hause gegangen, sondern bei dir geblieben. Du hättest dir dann ja trotzdem zum Sterben einen Moment aussuchen können, in dem ich nicht zuschaue.

So aber war ich zu Hause und kam erst am Morgen mit Mama und J. zu dir. Wir hatten dann ja noch den ganzen Tag Zeit, uns von dir zu verabschieden. Das war schön. Wir sind sogar zwischendurch Essen gegangen, haben Mama zum Spazierengehen im Park ausgesetzt, waren bei Ikea (um Bilderrahmen für die Bilder zu besorgen, die du dem Hospiz gerne schenken wolltest) und kamen dann am Nachmittag wieder zurück zu dir ins Zimmer. Mit uns unsere jeweiligen Anhänge. Wir alle blieben dann, bis die töffeligen Aushilfsbestatter vom Dorf am frühen Abend kamen, um dich abzuholen.

Dann packten wir die letzten Sachen, die noch in deinem Hospizzimmer herumlagen, ein und gingen nach Hause. Ein komisches Gefühl war das, zu wissen, dass wir jetzt nicht mehr täglich herkommen würden. Dass unsere Zeit dort nun ihr Ende gefunden hatte, weil du, die Hauptperson, nicht mehr da warst.

Na ja. Du weißt ja, dass ich dem Hospiz nicht lange fernbleiben konnte. Ich musste zwar eine ganze Weile warten, bis ich mit dem Vorbereitungskurs für das Ehrenamt beginnen konnte, aber das war es wert. Jetzt ist das Hospiz irgendwie meine spirituelle Heimat geworden und das ist wunderbar.

Gerade vor ein paar Tagen gingen wir mit der Hospizgruppe und Frau S., der Sozialpädagogin, im Park spazieren und ich erwähnte, wie oft wir mit dir in diesem Park gewesen waren, und Frau S. sagte: „Richtig, dein Vater wollte immer in den Park. Hach, wie toll, dass ich ihn noch kennenlernen durfte!“ Darüber habe ich mich wieder einmal sehr gefreut.

Eigentlich glaube ich ja fest daran, dass du – sofern du nicht gerade etwas Wichtigeres zu tun hast – auf deiner Wolke sitzt, auf mich runterschaust und schon bestens über alles, was ich mache, informiert bist. (Ebenso wie ich fest daran glaube, dass du mein Blog liest. Natürlich.)

Trotzdem erzähle ich es dir jetzt noch einmal, nur für alle Fälle: Ich möchte gerne ganz und hauptberuflich im Hospiz arbeiten. Und deswegen habe ich den ollen Job bei der Staatsoper, den ich seit vierundzwanzigeinhalb Jahren mache, gekündigt. Jawohl.

Was sagst du dazu, Papa?

Bevor du jetzt sagst, ich sei ja wohl verrückt geworden, erinnere dich bitte, dass du ziemlich genauso alt warst wie ich jetzt, als du deinen Job aufgegeben hast und in den Ruhestand gegangen bist, um dich endlich nur noch mit den Dingen zu beschäftigen, die dich auch beschäftigten. Ja, ich weiß, mit einer Super-Abfindung, so etwas gab es in den Neunziger-Jahren ja noch. Stattdessen bekomme ich vermutlich erstmal eine Sperre vom Arbeitsamt, weil ich selbst gekündigt habe. Tja.

Es ging aber nicht anders. Ich weiß nicht, ob ihr auf euren Wolken auch mit dem Corona-Virus zu tun habt, aber hier bei uns ist das echt ein Problem. Ich gehöre aufgrund meines Alters und meines Gewichts nun einmal zur Risikogruppe und ich möchte mich mit dem Mist nicht anstecken.

Was soll denn aus meinen Katzen werden, wenn ich ins Krankenhaus muss?

Das Allerschlimmste aber wäre natürlich, wenn ich infiziert wäre, es aber (noch) nicht wüsste und das Virus in Mamas Seniorenheim einschleppen würde. Ein echter Alptraum. Alte und geschwächte Menschen sind durch die Covid-19-Erkrankung besonders gefährdet – und Mama versteht das alles doch überhaupt nicht. Wenn sie dann möglicherweise ins Krankenhaus müsste, könnten wir sie dort nicht besuchen und sie wäre ganz allein. Und würde sich vielleicht erholen, vielleicht aber auch nicht. Und würde überhaupt nicht kapieren, was ihr da passiert. Das darf wirklich nicht geschehen.

Deswegen bin ich jetzt seit einem halben Jahr super-vorsichtig, meide Menschenmengen, gehe nicht in Restaurants, zum Friseur oder ins Fitnessstudio, trage überall, wo Menschen sind, einen Mundnasenschutz und treffe freiwillig nur Sebastian (auch das haben wir uns im Frühjahr wegen der vermeintlichen Ansteckungsgefahr eine Weile nicht getraut) und gehe Mama im Heim besuchen.

Im Büro aber lebe ich in beständiger Angst, mich anzustecken. Meine Kollegen sind bis auf ganz wenige Ausnahmen eher sorglos, halten sich nicht an Abstandsregeln und Hygienevorschriften und vergessen auch immer wieder, ihre Masken zu tragen und regelmäßig zu lüften. Irgendwie bestätigen sie meine dumpfe Ahnung, dass zu viel Oper nicht gut für das Gehirn sein kann.

Ich kann gar nicht so oft „Ich kündige!“ schreien, wie ich gerne möchte.

Zu Hause ist es ja auch schön. Die neuen Katzen sind entzückend, Rewe liefert Lebensmittel bis vor die Wohnungstür und ich hatte in den Sommerferien endlich Zeit, ein Buch zu schreiben. Und dieses Buch wird auch veröffentlicht werden. Jawohl. Mein Buch.

Da guckst du, nicht wahr?

Wenn ich daran denke, wie lange ihr, du und Mama, an eurem Buch gearbeitet habt. Und dann ist es nicht zur Veröffentlichung gekommen! Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, warum eigentlich nicht. Wie viele Verlage ihr gefragt habt, die dann dankend abgelehnt haben?

Das Gute ist ja: Heute braucht man gar keinen Verlag mehr. Man kann sein Buch einfach selbst rausbringen. Kostet so gut wie nichts und niemand kann einen daran hindern.

Vielleicht schaue ich mir euer „Humor kann man lernen“ noch einmal an. Ratgeber liegen nämlich voll im Trend, viel mehr vermutlich als mein „Katzen sterben“ (ja, so heißt mein Werk). Vielleicht veröffentlichen wir es einfach doch noch, quasi postum. Wäre doch eine Idee, oder?

Na ja, jedenfalls finde ich das mit dem Schreiben eine erfüllende Sache, das werde ich fortsetzen. Da man damit aber vermutlich nicht reich wird, will ich natürlich auch noch wieder einen richtigen Job finden, auf die Dauer zumindest. Und eben nach Möglichkeit im Hospiz.

Aber vorher möchte ich mich erst endlich mal weiterbilden. Das ist ja vierundzwanzigeinhalb Jahre lang zu kurz gekommen und ich finde, es wird jetzt Zeit. Dass du das gut findest, weiß ich einfach: Schließlich hast du nach deinem Abgang in den Ruhestand noch Informatik studiert und Mama hat, nachdem sie mit 50 Jahren ihr Abitur nachgemacht hat, noch ein Psychologiestudium begonnen (und dann eine ganz andere Ausbildung angehängt und auch abgeschlossen).

Ich freue mich also, hier und an dieser Stelle ankündigen zu können, dass ich diese Tradition, wenn auch in etwas bescheidenerem Umfang, fortsetzen werde. Trauerbegleitung, das ist mein Thema, im nächsten Februar geht hoffentlich (wenn wir dann alle geimpft sind) der Kurs los. Und – hier folge ich einer Empfehlung der Menschen vom Fach aus dem Hospiz – zusätzlich und zur Unterfütterung noch den „Heilpraktiker für Psychotherapie“, auch „Kleiner Heilpraktiker“ genannt.

Vielleicht ist ja die Arbeitsagentur so freundlich, mich bei einer der beiden Weiterbildungen zu unterstützen. Das wäre schön. Falls aber nicht, wird es daran nicht scheitern. Denn zum Glück gibt es ja noch das, was ich gerne „Schrödingers Familienvermögen“ nenne. Also, eure Rücklagen und Ersparnisse. Ein Vermögen halt nur so lange, bis man es angreift und dann womöglich viel zu schnell verbraucht. Aber hey, für eine Überbrückungszeit und für den guten Zweck „die letzten zehn Jahre vor der Rente noch Spaß im Beruf haben“ sollte mein Anteil wohl reichen.

Und wieder bin ich hundertprozentig sicher, dass es dir viel lieber ist, wenn wir dein Geld für so ein Projekt und ein Stück Selbstverwirklichung nutzen, und nicht für ein teures Auto oder eine Kreuzfahrt. Ja, ich gehe sogar so weit: Du wirst für diese Aktion stolz auf mich sein. Sobald du dich von deinem ersten Schreck und dem Mit der flachen Hand vor die Stirn Schlagen fertig bist.

Mama findet es jedenfalls eine gute Idee. Sie weiß zwar nicht ganz genau, worum es geht, aber sie freut sich, wenn es mir gut geht. Da ist sie sich ganz sicher. Und dafür hat sie auch noch immer feine Antennen.

Du siehst: Es ist ordentlich was los hier unten auf der Erde. Die Quintessenz zumindest bei mir ist übrigens: Du wirkst noch immer nach. Auch fünf Jahre nach deinem Tod.

Corona würdest du übrigens hassen. Denn du dürftest nicht singen. Deine drei Chöre dürften weder auftreten noch proben. Beim Singen verbreiten sich Aerosole, mit diesen das Virus, und wenn nur eine Person im ganzen Chor infiziert ist, sind die Chancen gut, dass sich so gut wie alle anderen Mitglieder anstecken. Und – wahrscheinlich weil sie beim Singen schön tief atmen – sie haben auch noch gute Chancen auf einen erschwerten Verlauf der Krankheit. Jetzt, im Herbst, fangen manche Chöre langsam wieder an zu singen, aber sie müssen sich dafür im Freien oder in riesigen Hallen treffen. Du würdest es hassen.

Mal sehen, wie das alles weitergeht. Wenn alles klappt, bin ich zum November schon frei. Und arbeitslos. Das wird spannend.

Ich halte dich auf dem Laufenden. Bis dahin grüß mir Olga und Ida, die sicher auf einer der Nachbarwolken sitzen und Hähnchenschlegel essen.

Viele Grüße
Deine Bettina

10 Kommentare

  1. Du bist der Wahnsinn, wirklich. Ich bewundere Deinen Mut, Deine Entschlossenheit – und ich wünsche Dir sehr, dass Du glücklich wirst mit dieser neu gedachten Zukunft. Und ich bin überzeugt, genau so wird es kommen!

    Liebe Grüße
    Nicole

    1. Danke, liebe Nicole! Was sollte schon schiefgehen? AAAAAAAAAAAAAHHHHH! Es wird spannend werden und auch gut, ganz sicher. Und ich werde berichten.

      Danke und viele Grüße
      Bettina

  2. Liebe Bettina, ich verfolge nun schon eine Weile dein Blog und habe dich gefunden, weil du über deinen Papa und die Zeit des Sterbens geschrieben hast, was mich sehr berührt und auch aufgehoben hat. Dann habe ich deine Initiative bewundert, ehrenamtlich in die Hospizarbeit zu gehen. Nun kommt der nächste Schritt. Ich kann nur sagen… es ist nie zu spät und du bist auf dem richtigen Weg und Hut ab, genau für diese Veränderungen.
    Herzliche Grüße Norma

    1. Danke, liebe Norma, für die Ermutigung. Ich glaube ja auch, dass sich alles finden wird – so wie geplant oder auch noch anders, aber es geht auf jeden Fall weiter. Danke fürs Lesen und viele Grüße von Bettina

  3. Herzlichen Glückwunsch zu Deiner mutigen Entscheidung. Ich bin mir sehr sicher, dass alles gut werden wird. Manchmal muss man wohl Dinge tun, die unerwartet (für die Anderen) sind, weil sie für einen selber als logisch erscheinen. Ich wünsche Dir viel Glück auf diesem Weg.
    Was Dein Verhalten zu Corona angeht, erkenne ich mich wieder. Auch ich gehöre zur Risikogruppe. Seit Juni ist mein Leben auch auf dem Prüfstand aufgrund von Krankheit. Und auch ich stehe vor Entscheidung, meinen (beruflichen) Lebensweg zu verlassen, weil ich erkannt habe, Leben ist viel bedeutsamer als Erfolg und Karriere.
    Manchmal braucht es einen kleinen Schubs, mal einen größeren.
    Alles Liebe Angelika

    1. Liebe Angelika, danke für deine ermutigenden Worte. Manchmal muss man (ich) tatsächlich „einfach“ meinem Bauchgefühl folgen und nicht zu viel überlegen, was nun vernünftig erscheint und was nicht. Nicht immer, aber immer mal wieder.
      Du hast recht, Corona bringt viel Unschönes, aber auch die Notwendigkeit und Chance, sich selbst und manche Entscheidungen mal wieder zu hinterfragen.
      Dir für deinen Weg alles Gute, was auch immer du überdenken und ändern möchtest. Es wird alles werden.
      Viele Grüße
      Bettina

  4. Liebe Bettina, als ich deinen Blog gelesen habe (wunderschön geschrieben, wie immer ) habe ich mir nur gedacht: wahnsinn, die Frau lebt das Leben, wozu dir momentan noch der Mut fehlt. Ich bin 50 und weiß, das ich meinen momentanen Job und das dazugehörige Leben so nicht mehr weiterführen will. Ein ständiges Hin und Her im Kopf, aber bis jetzt fehlt mir noch der Mut zu dem großen Schritt. Darum freue ich mich wirklich sehr für Dich und hoffe, das Du alles genau so positiv erleben wirst, wie Du es Dir vorstellst. Freue mich schon auf das Buch. Liebe Grüße Petra

    1. Liebe Petra,
      bei mir hat es auch fünf Jahre gedauert mit dem Hin und Her, aber dann war auf einmal hundertprozentig klar, dass ich diesen Schritt gehen will und gehen muss. Ich halte dir die Daumen, dass du auch irgendwann plötzlich Klarheit verspürst, denn dann kommt der Mut fast von alleine.
      Danke dir und herzliche Grüße
      Bettina

  5. Liebe Bettina, ich bin mir über die Jahre nicht mehr hunderprozentig sicher, aber ich glaube, daß ich über Dein Schreiben über Deinen Vater damals Deine Seite entdeckt habe. Mich hat Euere Beziehung sehr berührt.
    Dein entschlossener Schritt und Dein Mut werden ganz gewiss weiter zu Gutem führen!
    Ich freue mich und wünsche Dir von Herzen Glück und alles Gute und der Rückenwind von „oben“ wird vielleicht das seinige bewirken. Herzliche Grüße, Martina
    Ich drücke einfach mal den Daumen für alles was sonst noch möglich ist.

    1. Liebe Martina,
      vielen Dank. Ich denke auch, dass Entschlossenheit, Rückenwind, Daumendrücken im Internet und das eine oder andere auffordernde Miau es schon richten werden! Schließlich ist mein Plan gut und meine Motivation groß.
      Ich werde berichten, natürlich.
      Danke und viele Grüße
      Bettina

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